Geburtsstätte der SVP

Als im Berner Bierhübeli eine Partei erwachte

In diesem Saal sprach Rudolf Minger vor 100 Jahren - zuerst brav - über die schwierige Versorgungslage.

Dann zündete der flammende Redner eine Bombe: Er forderte die Gründung einer eigenen Bauernpartei.

Im Bild Minger bei einer Rede 1929.

Im Bild Minger bei einer Rede 1929.

Die Ankündigung tönt dröge: Ein R. Minger werde am Samstag, 24. November 1917, im Saal des Berner Restaurants Bierhübeli über die «wirtschaftliche Lage unseres Landes unter bes. Berücksichtigung der Landwirtschaft» sprechen. So steht es ein paar Tage vorher in der Zeitung «Der Schweizer Bauer».

Heute, 100 Jahre später, weiss man: Dieses Referat an der Ab­geordnetenversammlung des bernischen Verbands landwirtschaftlicher Genossenschaften wird in der Schweiz ein politisches Erdbeben auslösen.



R. Minger, das ist Rudolf Minger, Bauer und Bauernfunktionär aus dem seeländischen Dorf Schüpfen. Eine Saftwurzel, scharfzüngig und scharfsinnig. Meist gibt er sich als bodenständigen Patrioten. Die damals in der Schweiz herrschenden Freisinnigen aber, die die Bauern in der Politik mehr schlecht als recht vertreten, attackiert Minger schon mal mit klassenkämpferischem Vokabular: als «Geldsäcke» oder «Grosskapitalisten». Auch die linken «Parteibonzen» der aufstrebenden Sozialdemokraten kriegen von Minger ihr Fett ab.


So klang Rudolf Minger, hier ein Auszug aus der Neujahrsrede 1935. Quelle: Archiv Schweizer Radio und Fernsehen

Bevor der damals 36 Jahre junge Vulkan Minger an jenem Samstag vor 100 Jahren im Bierhübeli-Saal ans Rednerpult darf, leitet Verbandspräsident und ­Nationalrat Johann Jenny mit dämpfenden Worten ein. Er spricht zwar die kritische Versorgungslage im Weltkriegsjahr 1917 an, ebenso die Vorwürfe an die Adresse der Bauern, weil diese von den hohen Preisen für die knappen Lebensmittel profitieren. Aber Jenny will sich nicht mit den Freisinnigen anlegen. Obwohl die Partei die Bauernkandidaten bei den Nationalratswahlen miserabel unterstützt hat, sodass diese im ersten Wahlgang durchfielen und erst im zweiten Wahlgang reüssierten.

Minger lässt die Katze aus dem Sack

Auch Minger beginnt zahm. Er spricht über den Zuwachs der Anbaufläche und leiert langweilige Zahlenreihen herunter. Dann glaubt er im Saal ungeduldiges Gemurmel zu hören. Minger dreht auf. «Wir stehen am Vorabend einer neuen Zeit. In der ganzen Welt hat eine Gärung eingesetzt, die gewaltsam eine Abklärung fordert», kündigt er in unheilschwangerem Ton an. Dann steuert er dorthin, wo ihn Präsident Jenny nicht haben wollte: auf das Feld der Politik. Schonungslos benennt Minger den «Verrat des Freisinns», der die Bauernvertreter bei den Nationalratswahlen habe hängen lassen.

Dann zündet Minger seine Bombe: «Für uns gibt es nur eine Lösung: die Gründung einer eigenen, selbstständigen Bauernpartei! Jetzt müssen die Fesseln gesprengt werden. Die politische Bevormundung muss aufhören.» Grosser Applaus brandet im Bierhübeli-Saal auf. 20 Jahre später erinnert sich Minger an die Rede seines Lebens: «Nachdem ich mich bis kurz vor Schluss des Vortrags eng an das mir gestellte Thema gehalten hatte, nutzte ich die Gunst der Stunde: Ich habe kein Blatt mehr vor den Mund gehalten, sondern habe dem Fass den Spunten ausgeschlagen.»

«Was uns diese neue Epoche alles bringen wird, das ist noch in misteriöses Dunkel gehüllt.»

«Wir sind glücklich auf einem Gebiet angelangt, das wir sonst meiden. Es ist das Gebiet der Politik.»

«Jetzt müssen die Fesseln gesprengt werden.»

Redetext umstritten

Wie sich die Bierhübeli-Rede allerdings genau abspielte, ist umstritten. Film- und Tonaufnahmen gibt es keine. Aber immerhin eine Wiedergabe des Redetextes in der «Schweizer Bauer»-Ausgabe vom 7. Dezember 1917. «Vom Redetext gibt es jedoch mehrere Versionen», warnt Konrad Stamm, früherer Chefredaktor des Berner «Bund» und Autor der eben im NZZ-Libro-Verlag erschienenen Biografie «Minger: Bauer, Bundesrat».

Stamm hat die Umstände der Rede recherchiert und heraus­gefunden, dass der begnadete Redner Minger in den entscheidenden Passagen vom Manuskript abgewichen ist. Von der Stimmung im Saal angetrieben, hat er frei improvisiert.


Vier nachgesprochene Passagen der Bierhübeli-Rede.

Gerade weil der Verlauf der Rede unklar ist, eignet sie sich für eine mythische Überhöhung. Mingers Bierhübeli-Auftritt gilt als Geburtsstunde der SVP. Die Partei, zu deren Gründung er aufrief, ist eine Vorläuferin der SVP. Für die SVP des Kantons Bern ist der 24. November 1917 deshalb ein Anlass zum Feiern. Morgen Freitag, am Stichtag, wird sie vor den Medien darlegen, wie sie am 10. März ihren 100. Geburtstag in Mingers einstigem Wohnort Schüpfen zelebrieren wird.

Machtübernahme in Bern

Die offizielle Gründung der neuen Partei erfolgt am 28. September 1918 im Restaurant Bürgerhaus in der Berner Innenstadt. Minger nennt die neue politische Kraft Bauern- und Bürgerpartei. Minger aber ist laut Biograf Konrad Stamm klar, dass die Bauern allein zu schwach sind. Er strebt deshalb einen kleinbürgerlichen Schulterschluss der Bauern mit den Handwerkern und Gewerblern an. Damit geht Minger einen Schritt weiter als die Zürcher. Diese haben am 4. März 1917 in der Tonhalle in Zürich eine reine kantonale Bauernpartei gegründet. Sie ist die früheste Wurzel des SVP-Stammbaums.

1919 erfolgen die nationalen Wahlen erstmals nach dem Proporzverfahren. Die beiden Bauernparteien aus Zürich und Bern bringen es aus dem Nichts zusammen gleich auf 30 der damals 189 Nationalratssitze. 1920, bei der ersten Proporzwahl im Kanton Bern, erobert Mingers Bauern- und Bürgerpartei die Mehrheit der Sitze im Grossen Rat. Es ist eine Machtüber­nahme.

Günstiges Zeitfenster

Wie konnte dieser stürmische Aufstieg gelingen? Minger erwischt ein günstiges Zeitfenster. Weil sich die Schweiz nicht auf Versorgungsengpässe während des Ersten Weltkriegs vorbereitet hat, spitzt sich die Lage in den Kriegsjahren 1917/1918 zu. Die Lebensmittelpreise explodieren, in den Städten herrscht Hunger, der Zorn auf die hohen Lebensmittelpreise trifft die Bauern. Der Bundesrat rationiert mit staatlichen Eingriffen die Lebensmittel.


Suppenküche gegen den Hunger.

Weil kaum noch Esswaren aus dem kriegsversehrten Ausland in die Schweiz gelangen, ist unser Land mehr denn je auf seine Bauern angewiesen. Das nützen diese unter Führern wie Rudolf Minger aus. Sie sind stark genug dafür. Denn 1917 arbeiten noch etwa 30 Prozent aller Schweizer Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Heute sind es bloss noch rund 4 Prozent.

Minger lanciert seinen Bierhübeli-Aufruf nur knapp drei Wochen nach dem Beginn der russischen Oktoberrevolution. Wohl auch deshalb wird er als Revolutionär bezeichnet. Hat ein Revolutionär die SVP gegründet? Biograf Konrad Stamm dementiert. Minger habe seine Partei als dritte Kraft des Mittelstandes verstanden und zwischen dem Grosskapital und der Arbeiterschaft positioniert. Erst schiesst Minger gegen das freisinnige Grosskapital. Aber schon in seiner Ansprache zur Parteigründung attackiert er im September 1917 die Linke.

Landesstreik 1918

Truppenteile der Armee besetzen den Berner Helvetiaplatz.

Landesstreik 1918

Armeekontrolle auf der Kornhausbrücke.

Landesstreik 1918

Sogar das Bundeshaus wird militärisch bewacht.

BGB wird brav und bürgerlich

Nur wenige Wochen später löst diese Linke im November 1918 den landesweiten Generalstreik aus. Die junge Bauern- und Gewerbepartei jedoch steht auf der Seite der jungen Bauernsoldaten, die gegen den Streik in die Städte aufgeboten werden. Und die Partei setzt sich für die Bildung von Bürgerwehren gegen Streikende ein.

Das Rebellische lässt in Mingers Partei bald nach. Sie etabliert sich als bürgerliche Kraft. In ihrem Parteiprogramm bekennt sie sich zur Demokratie, zur Landesverteidigung, zur christlichen Religion, aber auch zu sozialstaat­lichen Forderungen – etwa einer Altersrente für Bauern – und einer Versöhnung zwischen Bauern und Arbeitern. 1929 werden die Bauernparteien vom Polit­establishment belohnt. Noch vor den stärkeren Sozialdemokraten erhalten sie einen Bundesratssitz. Gewählt wird: Rudolf Minger. Er ist der erste Bauer in der Landesregierung. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er Verteidigungsminister. Bis heute gilt er als einer der populärsten Bundesräte. Die Witze über ihn sind legendär.


Filmischer Nachruf auf Rudolf Minger, ausgestrahlt 1955 in der Schweizer Wochenschau des Fernsehens. Quelle: Cinémathèque Suisse / Schweizerisches Bundesarchiv

Im Kanton Bern geht der Aufstieg seiner Partei, die sich nun Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) nennt, unvermindert weiter. Denn Minger hat – wie später Christoph Blocher in der SVP – einen Ueli Maurer. Einen Parteisekretär namens Hans Stähli, der unermüdlich lokale Sektionen gründet. 90 Prozent der Berner Gemeinden haben bald einen BGB-Ableger. Auf der nationalen Bühne ist die Bauernbewegung noch föderalistisch und kantonal organisiert. Erst ab 1927 gibt es eine landesweite BGB.

In den 1930er-Jahren erleidet die neue Kraft ihren ersten Dämpfer. Sie erhält Konkurrenz von rechts, von faschistisch ausgerichteten Jungbauern. Auch BGB-Leute liebäugeln mit der neuen Rechten. Minger aber ist als Verteidigungsminister ein entschlossener Verfechter der Unabhängigkeit und ein Gegner des Nationalsozialismus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stürzt die technische Modernisierung die Landwirtschaft in eine Strukturkrise. Immer weniger Menschen arbeiten noch als Bauern. Entsprechend erodiert das ländliche Wahlvolk der BGB, ihr nationaler Wähleranteil stagniert bei 11 oder 12 Prozent.

1971 versucht sie die Flucht nach vorn. Sie fusioniert mit den demokratischen Parteien aus Graubünden und Glarus und nennt sich neu Schweizerische Volkspartei (SVP). Der Name ist das Programm einer Öffnung. Hin zur Mitte. Unter der Ägide der starken Berner Kantonalpartei versucht die SVP mit neuen Themen wie Ökologie oder Konsumentenschutz, neue Wähler unter den Angestellten im wachsenden Dienstleistungssektor zu gewinnen. Der Wähleranteil dümpelt dennoch weiterhin im tiefen 10-Prozent-Bereich. Der Partei wird schon ein schleichendes Ende vorausgesagt.

Christoph Blocher übernimmt

Es sollte anders kommen, denn 1977 erscheint Christoph Blocher. Der Pfarrerssohn und Unternehmer, ein polterndes politisches Naturtalent, übernimmt das Präsidium der Zürcher Kantonalpartei und gibt Gegensteuer zum Mittekurs der Berner. Nach rechts. Nach dem Zerfall des kommunistischen Machtblocks 1989 will der Bundesrat die Schweiz öffnen und europafreundlicher positionieren. Blocher aber fährt einen nationalkonservativen Unabhängigkeits- und Neutralitätskurs.


Christoph Blocher wettert 1992 gegen den EWR und belebt die SVP.

1992 erringt Blochers SVP erstmals die nationale Deutungs­hoheit, als sie das epochale Nein gegen den Schweizer Beitritt zum EWR erkämpft. Parteiintern hat der Zürcher Parteiflügel da bereits das Steuer übernommen. 2003 wird Blocher in den Bundesrat gewählt, der nationale Wähleranteil der einst totgesagten SVP explodiert bis 2007 auf fast 29 Prozent.

Was Blocher mit der SVP genau angestellt hat, ist umstritten. Hat er die Partei gekapert und um­gepolt zu einer rechtspopulistischen Oppositionsbewegung? Oder hat er die SVP zu ihren rebellischen Wurzeln und zu Rudolf Mingers Ausgangszorn gegen den Freisinn zurückgeführt?

Blocher hat sich mehrfach auf Minger berufen. Etwa 2007, zum 90-Jahr-Jubiläum der Bierhübeli-Rede, in der er die Grundsätze zu erkennen glaubt, die auch ihn zum Erfolg geführt hätten: Unabhängigkeit, Demokratie, Neutralität und Verteidigung. 2010, nach seiner Abwahl als Bundesrat, referiert Blocher in Aarberg über grosse Seeländer, unter ihnen Minger. Dabei präsentiert er sich als geistigen Erben des Bauernpolitikers mit dem Draht zum Volk.


Christoph Blocher spricht 2010 in Aarberg über Rudolf Minger und dessen Bierhübeli-Rede. Quelle: youtube.com/Christoph Blocher

Für den jungen Politologen Marius Hildebrandt ist die SVP eine junge und keine alte Traditionspartei. In seiner Dissertation über den Aufstieg der SVP nennt er die Blocher-Partei populistisch. Allerdings habe Blocher nicht ein Populismusmodell aus dem Ausland importiert. Vielmehr habe er radikaldemokratische Forderungen und eine Elitekritik aufgegriffen, die in der Schweiz schon lange präsent ­seien. Die SVP habe so den Populisten Europas ein Modell vermittelt. Wer hat den Populismus erfunden? Offenbar die SVP.

Parteienforscher Andreas Ladner von der Universität Lausanne widerspricht. Die SVP passe nicht ins Schema der jungen populistischen Bewegungen in Europa. Sie habe eine lange Tradition, sei im kleinbürgerlichen Milieu ver­ankert und verfolge anders als Europas Populisten eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Überdies habe die SVP ihre Klientel bis weit in den Mittelstand hinein ausgedehnt und werde nicht mehr nur von bildungsfernen und einkommensschwachen Leuten unterstützt.

Für Ladner ist die SVP eine staatskritische, konservative Partei, die Werte verteidigt. Populistisch sei höchstens ihre provokante Rhetorik.

Blocher, der neue Minger?

Ist Blocher also der neue Minger? Buchautor Stamm verneint. Die Unterschiede zwischen den beiden Figuren seien unübersehbar: «Minger war ein Bauer mit einer direkten Bindung an die Scholle und die Schweiz. Blocher aber ist ein Akademiker und ein Gross­kapitalist. Minger war ein Protektionist, Blocher ist ein wirtschaftsliberaler Promotor des Welthandels.»

Wenn sich Blocher auf Minger berufe, blende er gern ein paar von dessen Grundsätzen aus. So habe der Schüpfener Bauernführer etwa auch sozialstaatliche Massnahmen gefordert. «Minger wollte Verantwortung übernehmen und mitbestimmen, er hat nicht mit der Oppositionsrolle geliebäugelt», sagt Stamm.

Auch BDP blickt auf Minger

Auf Minger berufen hat sich auch Samuel Schmid, der heute der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) angehörende, frühere SVP-Bundesrat. Schmids Wohnort Rüti bei Büren ist nur wenige Kilometer von Mingers Schüpfen entfernt. Und das Kürzel der BDP, die sich 2008 nach dem Streit um die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat von der SVP abspaltete, ist wie ein Refrain auf Mingers BGB. In der Kleinpartei erinnert man sich aber weniger an den jungen Haudegen, als vielmehr an den versöhnlichen Minger, der verfocht, dass sich «das Staatswesen aus verschiedenen Gruppierungen zusammensetzt, die alle ihre Existenzberechtigung haben».

Die Anrufung des Schutzpatrons Minger vermag den Sinkflug der BDP bisher nicht zu bremsen. Die SVP aber hat auf der nationalen Bühne die Verluste nach dem Austritt der BDP längst wettgemacht. Sogar die kantonalbernische SVP hat den BDP-Auszug verdaut. Auch sie setzt mittlerweile auf einen konfrontativen Kurs. Gelernt hat sie ihn bei Blocher. Lieber aber beruft sie sich auf den zornigen Minger im Bierhübeli-Saal.

Das Buch. Konrad Stamm: «Minger: Bauer, Bundesrat – die aussergewöhnliche Karriere des Rudolf Minger aus Mülchi im Limpachtal», NZZ Libro, 428 Seiten, 48 Franken.

Militärische Feldküche vor dem Berner Spitalackerschulhaus während dem Landesstreik im November 1918.

Fotos: Burgerbibliothek Bern / Keystone / Staatsarchiv des Kantons Bern
Historische Rede: Archiv Schweizer Radio und Fernsehen
Historischer Film: Cinémathèque Suisse / Schweizerisches Bundesarchiv / Memobase.ch und swiss-archives.ch
Text/Sprecher: Stefan von Bergen
Umsetzung: Claudia Salzmann

Militärische Feldküche vor dem Berner Spitalackerschulhaus während dem Landesstreik im November 1918.

Fotos: Burgerbibliothek Bern / Keystone / Staatsarchiv des Kantons Bern
Historische Rede: Archiv Schweizer Radio und Fernsehen
Historischer Film: Cinémathèque Suisse / Schweizerisches Bundesarchiv / Memobase.ch und swiss-archives.ch
Text/Sprecher: Stefan von Bergen
Umsetzung: Claudia Salzmann

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