Auf der Gasse -

Obdachlose Frauen in Bern

Eine Frau durchwühlt die Kiste. Pullis. BHs. Hosen. Sie hält ein Jäckchen in die Höhe. «Warm gibt das nicht», murmelt sie vor sich hin und legt es zurück.

Am Tisch nebenan sitzt ein halbes Dutzend Frauen. Eine von ihnen reisst ein Stück vom Tessinerbrot, belegt es mit Aufschnitt. Sie unterhält sich mit ihrer Sitznachbarin.

Eine Frau stürmt rein. «Habt ihr schon wieder Hundefutter?»

Das Büro der kirchlichen Gassenarbeit in der Berner Altstadt – ein Wohnzimmer für Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Gasse ist. Der Dienstagnachmittag gehört alleine den Frauen. Nicht ohne Grund. Obdachlose oder von Armut betroffene Frauen bleiben in der Öffentlichkeit oft unsichtbar, spezifische Angebote für sie gibt es kaum.

Für den Dienstagnachmittag im Büro der Gassenarbeit sind die Frauen deshalb dankbar. «So haben wir unsere Ruhe vor den Männern», ruft eine von ihnen. Sie sitzt eingepackt in einer silbernen Winterjacke an einem runden Tisch und fischt ein Schokobrötchen aus dem Korb in der Mitte. Neben ihr sitzt Evelina – graue Steppjacke, ein Schal in Beige, das dunkelgraue Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie klammert sich an eine Tasse Kaffee und hat alles im Blick.

Die Tür zum Büro schwingt auf. Eine Frau hievt ihr Trottinett über die Schwelle. Am Lenker hängen Plastiktüten, aus einer ragen zwei Rollen Geschenkpapier. «Wie geht es dir Ilona?», begrüsst Evelina die Frau. Freundschaften? Das wäre übertrieben, sagen die Frauen an diesem Nachmittag. Man kenne sich, tausche sich aus. Nicht mehr, und nicht weniger. Andere widersprechen. Freundschaften entstünden durchaus, gar Paare hätten sich hier bereits kennengelernt.

Der Nachmittag neigt sich dem Ende entgegen. Eva Gammenthaler und Nora Hunziker vom Team der kirchlichen Gassenarbeit holen Kisten, gefüllt mit Äpfeln, Honig, Kartoffeln. «Wer will Couscous?», ruft Eva Gammenthaler und hält eine Packung davon in die Luft. Die Frauen schauen skeptisch. «Teigwaren. Wer braucht Hörnli?» Einige Frauen heben die Hand, einige rufen.

Nach einer Viertelstunde sind die Lebensmittel verteilt, die Frauen verstauen die Ausbeute in ihren Trolleys oder Plastiksäcke. Ilona ergatterte Schokolade. Eine Tafel mit Nüssen. Sie tauscht sie mit einer anderen Frau gegen Milchschokolade ein.

Aufbruchstimmung im Büro. Die Frauen verabschieden sich. Einige von ihnen fragen nach Zigaretten. Eva Gammentahler holt einen Pack. Ilona steckt sich eine Zigarette hinters Ohr. Auch Evelina packt ihre Sachen in einen silbernen Trolley und macht sich auf den Weg.

«Die Menschen nehmen nur das von der Welt wahr, was sie in ihrem Leben sehen», sagte Evelina an diesem Nachmittag. Wenn man auf der Strasse lebe, bekomme man einen anderen Blick auf die Welt. Diesen Blick, wolle sie zeigen.





Kirchliche Gassenarbeit

Der Kontakt zu Menschen auf der Strasse ist Basis der Tätigkeit der kirchlichen Gassenarbeit. Das Team ist abends draussen unterwegs und verteilt sauberes Konsummaterial, Hygieneartikel, Präservative oder Gutscheine für die Notschlafstelle. An Orten, wo andere Institutionen nur schwer Zugang fänden.

An zwei Nachmittage in der Woche steht das Büro offen. Die Klientinnen und Klienten können telefonieren, am Computer arbeiten oder ins Internet gehen. Bei Kaffee und einem Zvieri können sie sich austauschen. Das Team hört zu, berät, vermittelt Hilfe. Einmal im Monat kommt ein Tierarzt vorbei.

Kisten voller Kleider im Büro der Gassenarbeit. In der Weihnachtszeit häufen sich die Spenden.

Kisten voller Kleider im Büro der Gassenarbeit. In der Weihnachtszeit häufen sich die Spenden.

Ungepflegt, mit zerrissenen Kleidern. Der Clochard prägt unser Bild von Obdachlosigkeit. Das greife zu kurz, sagen Experten. Obdachlosigkeit habe die verschiedensten Gesichter, die gebräuchliche Typologie unterscheidet vier Formen von Obdachlosigkeit.

Obdachlosigkeit betrifft alle gesellschaftlichen Schichten. Eva Gammenthaler und Nora Hunziker vom Team der Gassenarbeit erzählen von Menschen, die einst Hunderttausende auf dem Konto hatten und nun zu ihnen ins Büro kommen.

Den einen Grund für Obdachlosigkeit gebe es dabei nicht. Vielmehr seien es Faktoren, die sich gegenseitig befeuern. Jemand verliert seinen Job, driftet in die Alkoholsucht und landet schliesslich auf der Strasse.

Familie – Freunde – Arbeit – Gesundheit. Fällt etwas davon weg, geraten Menschen schnell in die Abwärtsspirale – und kommen kaum wieder raus. Ein Teufelskreis.

Genaue Zahlen zur Obdachlosigkeit liegen für Bern nicht vor. Eine der wenigen Studien zum Thema hat Basel-Stadt erarbeiten lassen. Die Studie kommt zum Schluss: Männer sind viermal mehr von Obdachlosigkeit betroffen als Frauen. Ein Verhältnis das sich in ganz Europa beobachten lasse.

Frauen, so die Studie, vermeiden Obdachlosigkeit. Meist aus Sicherheitsüberlegungen. Sie nutzen dazu ihr soziales Netz, übernachten bei Freunden. Das führe einerseits zu Abhängigkeitsverhältnissen. Andererseits bleibe das Problem unsichtbar - die Dunkelziffer von wohnungslosen Frauen sei dementsprechend hoch.

Ethos - Europäische Typologie von Obdachlosigkeit

- Unzureichendes Wohnen:
Menschen, die unzureichend wohnen, leben in Provisorien, zum Beispiel in einem Zelt.

- Ungesichertes Wohnen:
Wer in einer Wohnung ohne Mietvertrag wohnt, wohnt ungesichert. Dasselbe gilt für Menschen, die temporär unterkommen, zum Beispiel bei Freunden oder Bekannten.

- Wohnungslos:
Mit wohnungslos sind Menschen gemeint, die in Asylunterkünften, Notwohnungen oder anderen Einrichtungen wohnen. Oder aber Menschen, die in Hotels wohnen, oder die gerade aus dem Gefängnis oder der Psychiatrie kommen..

- Obdachlos:
Menschen, die im Freien oder in der Notschlafstelle übernachten.


«Der Arzt sagte mir, ich werde nicht älter als 30. Jetzt bin ich bald doppelt so alt.»
- Ilona

Ilona

Ilona trägt an jedem Finger einen dicken, silbernen Ring. Unter dem Beret schauen die rot-blonden Haare hervor. Ihre Füsse stecken in Holzzoggel mit Blumenmuster. Sie sei noch im Alkistübli gewesen, erzählt sie an diesem Dienstagnachmittag im Büro der Gassenarbeit.

Ilonas Geschichte ist nur schwer mit den Vorstellungen von einem Leben in der Schweiz vereinbar.

Aufgewachsen ist sie im Heim. Dort ist sie als Teenagerin abgehauen, ist auf den Gassen Zürichs gelandet. Sie erzählt, wie sie sich für Gras auf Männer eingelassen hat – immer mit denselben. «Ich hab die witzig gefunden. Oder interessant. Ich weiss auch nicht, warum ich das gut fand. Vielleicht wars das Kiffen.»

Sie erzählt vom Wackel – dem Drogenstrich. Von ihrer ersten Überdosis. Vom «Sugar» - Heroin – das sie Anfang 20 mit dem Wasser aus der Limmat aufkochte. Die Drogen, das Leben auf der Strasse setzten ihr zu. Sie erzählt, wie sie als junge Frau von Schmerzen geplagt war. Zum Arzt wollte sie nicht. Sie schlief weiter draussen.

Nach einer Nacht in der Rondelle am Bellevue machte sie ihren «Knall» - und klappte zusammen. Geschrien habe sie, wie am Spiess. Blutvergiftung, Nierenversagen, ein vereitertes Steissbein. «Die Ärzte sagten mir später, ich werde nicht älter als 30. Jetzt bin ich bald doppelt so alt.»

Nach einer Therapie verschlug es Ilona nach Bern. Mitte zwanzig, mit einem Kind, fand sie Arbeit in einem Betagtenheim. Berufsbegleitend machte sie eine Ausbildung, unterstützt durch eine Stiftung. Ilona wohnte in einer Zweizimmerwohnung. Sie schlief in der Stube. «Der Platz reichte gerade für mein Bett und meine Musikkassetten.»

Sie traf einen Mann, einen Nachbarn, ehemaligen Drogenabhängigen, landete mit ihm «in der Pfanne» - Beziehungen zu Männern waren ihr untersagt. Eine Situation, die sie überfordert. Es trieb sie auf die Gasse, sie besorgte sich «Gift.» Die, die auf ihr Kind aufpassten, dachten, sie sei bei der Arbeit. Auf der Arbeit sagte sie, sie sei krank.

So ging es weiter, bis sie von ihrer zweiten Schwangerschaft erfuhr.



«Ich weiss auch nicht, warum ich das gut fand. Vielleicht wars das Kiffen.»

«Mit der Trennung veränderte sich alles. Schlagartig.»
- Evelina

Evelina

Evelina sitzt mit ihrem Hund Waldi im Büro der Gassenarbeit. Der lauteste Hund von Bern, wie sie sagt. Als Evelina Waldi vor fast vier Jahren bekommen hat, war ihr Leben ein anderes. Sie war verheiratet, lebte mit ihrem Mann in Solothurn. «Mit der Trennung veränderte sich alles. Schlagartig.»

Sie erzählt von Machenschaften von ihrem Ex, von verfälschten Unterlagen und Dokumenten. Evelina bekam keine Wohnung. Vorübergehend wohnte sie im Ferienhaus von Freunden, später schlief sie im Auto.

Das Leben in der Schweiz wollte sich Evelina nicht mehr zumuten. Mit ihrer Mutter reiste sie nach Italien, wo ihre Eltern einst ein Haus bauten. Vor Ort, die Enttäuschung. Fenster und Öfen waren herausgerissen, das Haus für die beiden Frauen unbewohnbar.

Sie lebten auf der Strasse. Bettelten. «Geld wollten wir nie. Wir fragten nur nach Essen.» Sie erzählt, wie sie in einer Pizzeria um Essen bat - ohne grosse Hoffnung. «Ich durfte sogar auswählen, welche Pizza ich möchte. Das hat mich zu Tränen gerührt.»



«Geld wollten wir nie. Wir fragten nur nach Essen.»

«In Bern muss niemand auf der Strasse schlafen.»
- Direktion für Soziales

Für die Stadt Bern kümmert sich Pinto – Prävention, Intervention, Toleranz – um obdachlose Menschen. Pinto wisse von fünf Frauen, die zurzeit auf der Strasse schlafen, schreibt die Stadt. Dies sei keine abschliessende Zahl. Weiter schreibt die Direktion für Soziales: In der Stadt Bern müsse niemand auf der Strasse schlafen, Notschlafstellen seien genügend vorhanden.

Jedoch gebe es Menschen, die freiwillig auf der Strasse übernachteten. Dies weil sie Hilfsangebote nicht in Anspruch nehmen wollten oder könnten. Das hänge vor allem mit psychischen Problemen zusammen, die auch durch zusätzliche Wohnangebote nicht behoben werden könnten.

«Das ist für mich eine schwierige Begründung», sagt Eva Gammenthaler. Ihre Kollegin Nora Hunziker pflichtet ihr bei. Sie sitzen am Tisch im Büro der Gassenarbeit. Eva Gammenthaler politisiert für die Alternative Linke im Berner Stadtrat. Dort hat ihre Partei eine Motion eingereicht, in der sie eine Notschlafstelle für Frauen fordert. Die Angebote seien nicht niederschwellig genug, ist der Vorstoss begründet. Der Gemeinderat unterstützt das Anliegen nicht.

«Die von der Stadt schreiben ja selbst, dass die Frauen das Angebot nicht in Anspruch nehmen können», sagt Nora Hunziker. Das zeige doch, dass das Angebot Lücken aufweise. «Lücken, die wir schliessen müssen.»

Die Soziale Arbeit müsse den Menschen Angebote machen, die sich auch annehmen könnten. «Sobald Menschen da sind, die die Hilfe nicht annehmen können, muss man sich doch fragen, wie man das Angebot anders strukturieren kann.» Nora Hunziker und Eva Gammenthaler betonen nochmals: Soziale Institutionen und Angebote funktionieren nur, wenn sie niederschwellig seien.



Für obdachlose Menschen – und Frauen im Besonderen – gebe es unterschiedliche Gründe, warum sie Hilfsangebot nicht nutzen können. Etwa weil sie Haustiere haben, die nicht überall erwünscht oder erlaubt sind.

Die einen können nicht mit den strikten Vorgaben zu Alkohol- und Drogenkonsum umgehen. Anderen fällt es schwer, sich an die Ein- und Auslasszeiten zu halten. Notschlafstellen sind oft nur nachts offen. Sexarbeiterinnen arbeiten nachts und bräuchten Angebote am Tag.

Frauen kann es helfen, wenn Männer ausgeklammert sind. Darauf zielt die Notschlafstelle für Frauen. Bereits Erfahrung sammelt der Kanton Basel-Stadt. Dort läuft seit 2018 ein Pilotprojekt mit einer Notschlafstelle ausschliesslich für Frauen.

Die Heilsarmee, Betreiberin des Passantenheims in Bern, könne einen Platzmangel grundsätzlich nicht bestätigen, schreibt sie auf Anfrage. Es gebe Zeiten mit starker Nachfrage. «Die Leute platzieren wir für ein oder zwei Nächte auf einem Sofa.» Wenn nötig nehme man Kontakt mit anderen Institutionen auf, im schlimmsten Fall würden Feldbetten aufgestellt.

Abweisungen gebe es selten, schreibt die Heilsarmee weiter. Hunde könnten nicht aufgenommen werden - die Zimmernachbarn würden sich stören oder seien geängstigt. 3 bis 4 Mal im Jahr gebe es Abweisungen wegen Bedrohungen.

Situation in Basel

28 Plätze hat es in der Notschlafstelle für Frauen in Basel, die seit September 2018 offen ist. Durchschnittlich schlafen 12 Frauen pro Nacht in einem der Zimmer. Das sind mehr als vorher. Laut Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt übernachteten in den gemischten Notschlafstellen durchschnittlich nur halb so viele Frauen. Im Laufe des Jahres 2020 will der Kanton den Pilot auswerten und entscheiden, ob er die Notschlafstelle für Frauen beibehalten will.

«An das Leben auf der Strasse gewöhnt man sich nicht.»
- Evelina

Evelina

Evelina erzählt von vielen Nächten, in denen sie draussen auf dem Boden schlief. Mittlerweile ist sie in ein Zimmer gezogen. Einbauschränke, Fischgrätparkett, eine Galerie im ausgebauten Dachstock.

«Hier habe ich alles, was ich brauche. Schon fast zu viel», sagt sie.

Ein Schrank und ein Büchergestell trennen das Zimmer. Auf der einen Seite stehen zwei Stühle und ein Sessel um ein Salontischchen. Evelina läuft zum Tischen, hebt den Stoff - einen alten Rock von ihr, den sie nicht mehr trägt - zum Vorschein kommt ein alter Eimer Hundefutter. Der Schrank, das Büchergestell waren schon hier. Den Bürostuhl, der auf der anderen Seite des Zimmers am Tisch steht, wollten die vorherigen Besitzer nicht mehr. «Gratis zum Mitnehmen.»

Ein kleiner Kühlschrank steht im Zimmer. Evelina öffnet ihn. Ein Tupperware, drei Joghurts, eine Flasche Cola und eine Flasche O-Saft. Kochen kann Evelina in der Gemeinschaftsküche, die sie sich mit den anderen Bewohnern des Hauses teilt. Vier Männer. Viel zu tun mit ihnen habe sie nicht.

Evelina sitzt in ihrem Sessel und erzählt, wie sie in Italien ihre Mutter aus den Augen verloren hat nach einem Streit. «Ich wusste nicht, wo sie war, ob sie noch lebte.» Sie machte sich auf den Weg zurück in die Schweiz, lebte auf der Gasse, übernachtete an Bahnhöfen, irgendwo in der Stadt. Die Kälte, sich nicht waschen können, die verurteilenden Blicke der anderen – an das Leben auf der Strasse könne man sich nicht gewöhnen.

12 Stunden draussen sein. Im Sommer sei das weniger schlimm. Man könne baden, im Park schlafen, wo es Menschen hat und einem nichts passiere. Aber im Winter? Mit dem Hund könne sie kaum irgendwo rein, erzählt Evelina. Und selbst wenn sie Zuflucht finde, sei das Zusammensein mit fremden Menschen nicht immer einfach.
«Jemand hat mir in der Notschlafstelle Löcher in die Schuhe gemacht. Unglaublich.»

Als Frau sei alles noch schwieriger. «Alle wollen sie Geld aus dir rauspressen. Sie wollen dich abhängig machen, dich auf den Strich schicken. Oder beides.» Sie sei standhaft geblieben. «Mein Glaube und mein Hund haben mich davor bewahrt.» Mit Waldi hätte sie eine Aufgabe. Sie müsse zu ihm schauen. «Es geht nicht nur um mich.» Doch auch wenn sie stark blieb, die Finger von Alkohol und Drogen lässt. «Die Menschen denken trotzdem, ich sei süchtig, ich sei eine Prostituierte.»

Ilona

Ein paar Tage später im Büro der Gassenarbeit. Ilona packt ein paar Mandarinen in einen Plastiksack und stellt ihn zu ihrem Trottinett. Sie erzählt ihre Geschichte dort weiter, wo sie eine Woche vorher aufgehört hat.

Sie erzählt, wie sie nach ihrem erneuten Absturz im neunten Monat schwanger war und einen Mann kennenlernte. «Den will ich», dachte sie sich damals. Kurze Zeit später waren die beiden verlobt. Die Ehe: schwierig. «Wir hatten ständig Krach.» Sie sei froh gewesen, dass sie nicht mehr arbeiten muss, Zeit für die Kinder hat.

Sie wird schwanger - quasi ein Wunschkind, sagt sie. «Aber auch zu dieser Zeit löste er die Probleme mit Schlägen.»

Um ihn zu verlassen, fehlte ihr die Kraft. «Die gleiche Hand die mich schlug, war die Hand, die mich liebte. Das ging mir nicht in den Kopf.» Es habe sie fertig gemacht, dass er immer nur motzte. «Nie konnte ich ihm etwas recht machen.» Sie hielt es nicht mehr auf, stieg in einen Zug nach Zürich zu ihrem Mami- und trieb dort «Gift» auf. Sie verlor das Zeitgefühl. Nach dem Absturz ging ihre Ehe in die Brüche, die Kinder wurden weggebracht.

Bis vor einem Jahr  ging Ilona noch auf den Strich. «Das war zwar erniedrigend. Aber das Geld sicherte mir einen Platz am Warmen.» Heute lebt Ilona in Thun, übernachtet in der Notschlafstelle. Die Zeit vertreibt sie sich mit Wischen, dort wo sie ein- und ausgeht, ihr Haupthobby. Das Leben habe sie kaputt gemacht, erzählt sie. Überwunden habe sie das Erlebte nicht.

Beschweren will sie sich nicht. Nur etwas, das finde sie frech. Als sie früher im Heim wohnte, musste sie früh aufstehen und arbeiten. «Als sie uns weckten, haben sie immer gleich die Fenster aufgerissen. So unnötig.» Das erlebe sie in der Notschlafstelle nun wieder. «Das müsste nicht sein.»

«Freiheit bedeutet für mich, dass ich machen kann, auf was ich Lust habe.»

Abgabetermin im Büro der Gassenarbeit. Jeden zweiten Dienstag arbeiten die Frauen an Beiträgen für das Magazin der kirchlichen Gassenarbeit. «Mascara» erscheint viermal im Jahr. Sich mitteilen, zeigen: «Schaut, uns gibt es auch», das gefalle ihnen, erzählen die Frauen. Damit ihre Gedanken nicht nur im Büro der Gassenarbeit, auf der Strasse oder in der Notschlafstelle bleiben.

Die Frauen sitzen an den Tischen, ruhig, über ihre Beiträge gebeugt, die sie von Hand schreiben. Oder zeichnen.

Auch Ilona und Evelina veröffentlichen Beiträge im Mascara.

«Um 18 Uhr abends darf man rein und um 9 Uhr morgens muss man draussen sein. Klar, Notschlafstelle geht schon, aber lieber möchte ich schon wieder eine eigene Wohnung. »

«Ist es nicht so, dass wir durch unsere Erfahrungen, durch unsere persönliche Lebensreise auch Erkenntnis erfahren? Die Erfahrungen, durch viele Monate ohne materiellen Druck, hat mir eine Seite gezeigt, eine Seite neben der 0815-Masse.»



Aus der letzten Ausgabe «Mascara»

«Erkenntnis Nummer 1000: Wir wollen frei leben. Aber die Sucht macht uns nicht frei. Sie schafft uns unser eigenes Gefängnis.»

«Freiheit bedeutet für mich, dass ich machen kann, auf was ich Lust habe. Ich mache mich nicht von anderen abhängig, bleibe selbständig.»

«Meine Freiheit sichert mir immer nur die Gegenwart. Ich lebe im Jetzt, denn wer garantiert mit, dass es die Zukunft überhaupt noch gibt.»



Die soziale Arbeit habe sich in den letzten Jahren gewandelt, sagen Eva Gammenthaler und Nora Hunziker. Fordern und fördern – wobei fordern im Fokus stehe. «Menschen bekommen oft nur Hilfe, wenn sie etwas dafür leisten», sagt Eva Gammenthaler.

Das ist die eine Richtung. Gleichzeitig entstehen neue Ansätze.

So etwa das Konzept «Housing First». Meist stehe die eigene Wohnung am Ende eines Prozesses – als Belohnung quasi. «Housing First» kehrt das Prinzip um. Obdachlose bekommen gleich eine eigene Wohnung. Wohnen als Menschenrecht, nicht als Privileg.

Während zahlreiche europäische Städten Konzepte wie «Housing First» bereits anwenden, sind Städte in der Schweiz zurückhaltend. In naher Zukunft wird es auch in Bern keine Schritte in diese Richtung gehen. Der Gemeinderat schreibt, die Stadt Bern nehme an einem Städtevergleich teil und er wolle die Ergebnisse abwarten bevor er handelt.

Die Frauen geben ihre Texte ab und machen sich auf den Weg.

Auch Ilona schnappt sich ihr Trottinett und packt ihre Sachen zusammen. Sie sei gerade daran, ein Buch zu schreiben, erzählt sie. Obwohl es ihr schwer falle, die Erinnerungen weh tun, wolle sie ihre Lebensgeschichte aufschreiben.

Die Menschen, die ins Büro der Gassenarbeit kommen, seien alle sehr verschieden, sagt Evelina. «Jeder hat seine eigene Geschichte, das ist okay, jeder geht seinen eigenen Weg.» Sie sei froh, wenn sie den Tag prestiere.

Charta der aufsuchenden Sozialarbeit

Die kirchliche Gassenarbeit hält sich an die Vorgaben der Charta der Fachgruppe für aufsuchende Sozialarbeit/Streetwork (Fagass). Darin ist festgehalten: Die Aufsuchende Sozialarbeit versteht und positioniert sich ausserhalb der normativ-repressiven Kräfte. Nora Hunziker hat zu diesem Thema ihre Bachelor-Arbeit in Sozialer Arbeit geschrieben, wie sie im Video erzählt.

Konzept, Text, Bilder, Video: Stephanie Jungo

Konzept, Text, Bilder, Video: Stephanie Jungo

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