Alec von Graffenried

Er liebäugelte von RGM aus stets nach rechts, verpasste mit dieser Strategie aber 2004 die Wahl in den Gemeinderat.

Im aktuellen Wahlkampf bezeichnet er sich als «99 Prozent RGM». Als Harmoniesüchtiger ist Alec von Graffenried zum Lavieren verdammt.

Er gilt als einziger Mann, der Ursula Wyss (SP) gefährlich werden kann. Der Einzige dafür, ihren Einzug als Stadtpräsidentin in den Erlacherhof zu verhindern. Doch ebenso realistisch ist, dass Alec von Graffenried (GFL) die Wahl in den Gemeinderat verpasst – oder dass sein Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) neu vier Sitze holt und Rot-Grün ihn für Mehrheiten gar nicht braucht.

In diesem Krimi agiert von Graffenried in seiner Paraderolle: als Hauptdarsteller mit vielen Gesichtern. Was ihm oft vorgeworfen und als Schwäche ausgelegt wird – zu lavieren –, deutet er in eine Stärke um: «Brückenbauer» ist eines seiner liebsten Wörter. «Es gibt schärfere Profile als meins, das ist so.»

Für zusätzliche Spannung sorgt, dass er schon 2004 in einem Berner Wahlthriller eine Hauptrolle spielte, als ihm im Gemeinderatsrennen gegen Regula Rytz (GB) nur sechs Stimmen fehlten. Danach verlangte seine Partei eine Nachzählung – gegen seine Listenpartnerin und grüne Kollegin, notabene. Drei Berner Stimmberechtigte zogen bis vor Bundesgericht, das schliesslich die Nachzählung anordnete.

Statthalter und Nationalrat

Davor und danach bewies von Graffenried, dass er Wahlen gewinnen kann: Von 2000 bis 2007 war er Regierungsstatthalter, 2007 bis 2015 Nationalrat. Aus seiner Zeit als Statthalter sind vor allem zwei Dossiers in Er­innerung geblieben. Bei beiden rieb er sich an RGM, zu beiden hat er plausible Erklärungen: Einmal schmetterte er den Bau des Baldachins ab, den das Volk auf dem Bahnhofplatz bauen wollte. «Das auf Wunsch der Stadt eingeholte Gutachten des externen Denkmalpflegers liess mir keine Wahl», sagt er. Später korrigierte der Kanton von Graffenrieds Entscheid. Das andere Mal schloss er alle Hanfläden, nach Ansicht von links ohne Augenmass und ohne einen Mittelweg je zu erwägen. Das Ganze sei komplett aus dem Ruder ge­laufen, kontert von Graffenried. «Der grösste Laden machte mehrere Millionen Franken Umsatz, und viele Läden hatten eine Pistole unter dem Ladentisch.»

Statthalter von Graffenried fädelte aber auch den Prozess ein, der 2009 in die Fusion von vierzehn Feuerwehren der Region Bern mündete. Ebenfalls in seine Amtszeit fällt die Legalisierung des Dead End, der Bar der Notschlafstelle beim Henkerbrünnli.

Als Nationalrat wirkte von Graffenried mehrheitlich abseits des Rampenlichts. Für sein Amt als Präsident der Rechtskommission habe er viel positives Feedback erhalten, sagt er.

Als Nationalrat mehrheitlich abseits des Rampenlichts tätig.

Berner George Clooney

Wie auch immer: Die beiden öffentlichen Ämter sind Stationen eines eindrücklichen Bewerbungsdossiers. Als Jusstudent jobbte von Graffenried als Magaziner, Kellner, Gerüstbauer und Journalist. Danach arbeitete er vier Jahre im kantonalen Raumplanungsamt und sechs Jahre als selbstständiger Anwalt, ehe er Statthalter wurde. Er ist Direktor Arealentwicklungen bei Losinger Marazzi, einem Konzern, der massgeblich dank von Graffenried bei nachhaltigem Bauen schweizweit vorne mitmischt. Seit 2010 präsidiert er Bern Tourismus.

Er ist Berner durch und durch – «Es ganzes Läbe gärn z’Bärn» ­lautet einer seiner Wahlslogans. Bernburger, YB-Fan, leutselig, kulturaffin. 54 Jahre alt, zwei erwachsene Kinder aus erster Ehe, zwei – 15- und 13-jährig – mit seiner heutigen Ehefrau. Ein Slogan, mit dem seine Parteipräsidentin für ihn wirbt, vergleicht ihn mit Filmstar George Clooney: Alec for president, what else?

«Biografisch am meisten geprägt hat mich der frühe Verlust meiner Eltern», sagt von Graffenried, weil es ihn gelehrt habe, was im Leben wirklich wichtig sei: «Die Familie und enge Be­ziehungen.» Diese Verlusterfahrung habe ihn «harmoniesüchtig» werden lassen, sagte er auf einem Podium. «Das ist ein Vorteil, wenn man zusammen mit anderen weiterkommen muss.» Ein anonymer Kritiker hingegen fragt polemisch: «Was macht ein Harmoniesüchtiger, wenn er für die Stadt mit der Burgergemeinde verhandeln muss und seine Gegenüber sagen: ‹Alec, du bist doch einer von uns.›?»

Alles klingt einfach

Letztes Jahr trat von Graffenried aus dem Nationalrat zurück, weil er der Dreifachbelastung Job, Politik und Familie nicht mehr gewachsen war. Jetzt zieht es ihn mit aller Kraft zurück in die Politik. Gemäss Selbstdeklaration investiert er von allen Gemeinderatskandidatinnen und -kandidaten, die sich dazu äussern, am meisten Geld in den Wahlkampf – 110 000 Franken. Bei Podien sind der Chef und ein Filmer der ­Werbeagentur dabei, die seinen Wahlkampf orchestriert, um danach Ausschnitte über Social Media zu verbreiten.

Er ist ein versierter Redner, den nichts so schnell aus der Ruhe bringt, sein Auftritt ist souverän. Auf dem Podium des Vereins «Bern neu gründen», wo er im Thinktank mitwirkt, und auf jenem des Mieterverbands, wo er dank seines beruflichen Hintergrunds aus dem Vollen schöpfen konnte, hatte er auch inhaltlich viel zu bieten. Dennoch wirkte er nicht immer konzis, etwa dann, wenn er sich für Gemeindefu­sionen starkmachte und einmal fand, diese müssten von unten kommen – «bottom up», «Grassroot» –, und wenig später, es brauche «Leadership».

Es ist wie ein roter Faden: Bei von Graffenried klingt alles einfach – im Detail hingegen wird er widersprüchlich, und er neigt dazu, seine Meinung der Situation anzupassen. «Ich wäge vor einem Entscheid ab und will alles ein­beziehen», sagt er. «Mit mir erhält Bern viel Solidität.» Vor vier Jahren räumte er in einem Interview mit dieser Zeitung ein: «Es stimmt, ich laviere viel.» In unserer komplexen Welt habe alles nicht nur zwei, sondern mehrere Seiten.

Versierter Redner mit souveränem Auftritt, und einer, den nichts so schnell aus der Ruhe bringt.

Handfester Brückenbauer

Beim Förderverein Waldstadt Bremer oder im Verein Pro Panoramabrücke, die er beide präsidiert, bei der Gaswerkplanung oder im Internet: Nicht immer ist von Graffenried gut vorbereitet, und regelmässig bringt er sich ­ohne Not in ungemütliche Situationen. Zur Reitschule sagte er auf dem «Bund»-Podium, es brauche «Frontpräsenz». Zu Eskalationen komme es in der Regel in der Nacht auf Sonntag zwischen 2 und 3 Uhr. «Da habe ich eigentlich gut Zeit.» Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) war nicht der Einzige, der den Spruch unbedarft fand.

Bei der Panoramabrücke – der Velobrücke zwischen Breitenrain und Länggasse – stellt sich die Frage, wieso von Graffenried im Wahlkampf nicht an ihrem Beispiel aufzeigt, dass er nicht bloss rhetorisch, sondern handfest ein Brückenbauer ist. Die Vermutung liegt nahe: Die Brücke ist viel zu umstritten – und bei Kritikern zudem dankbarerweise als Ursula-Wyss-Projekt verschrien –, als dass sich mit ihr punkten liesse.

Bei einem bodenständigeren Mandat, dem Präsidium von Bern Tourismus, gelang dieses Jahr mit der Gründung von Bern Welcome ein Durchbruch. Die mit zahlreichen Partnern gebildete Holding soll künftig für alle Kongress- und Eventorganisatoren zentrale Anlaufstelle sein. Hätte er sich gegen die neue Rechtsform von Bern Tourismus gewehrt, wäre dies nicht möglich gewesen, sagen Beobachter. Wie wichtig sein Anteil war, geht auch daraus hervor, dass Bern Tourismus die bisherigen Arbeiten vorfinanziert hat.

Stilfragen vor Inhalt

2004 schielte von Graffenried im Gemeinderatswahlkampf nach rechts. Rot-Grün verschliesse die Augen vor Ausländerkriminalität, Vandalismus, Littering oder Problemen bei der Reitschule, kritisierte er. Es zog ihn immer stärker in die Mitte, als dass er bei Rot-Grün jemals heimisch gewesen wäre. Im Nationalrat scherte er regelmässig aus seiner Fraktion aus, sympathisierte offen für eine Fusion mit den Grünliberalen. Er war für die Erhöhung der Grimselstaumauer, er war gegen die Zweitwohnungs-, die 1:12-, die Mindestlohn- und viele andere linke Initiativen. Er teile das Anliegen, nicht aber das gewählte Mittel, sagte er dazu gern.

Aktuell hält er sich mit Inhalten zurück. «Wär zäme schafft, dä schaffts»: In seinen Slogans geht es um Stilfragen, um Feinstoff­liches. Im Zweifelsfall bekennt er sich zum RGM-Bündnis, das im Frühling nach 24 Jahren beinahe geplatzt wäre. «Ich bin 99 Prozent RGM», sagte er kürzlich.

Es zog ihn immer stärker in die Mitte

Werbung für 365 Aaretage

Weicht er derzeit mal von RGM ab, relativiert er dies auf Nach­frage – fast bis ins Gegenteil. Er sei für eine Steuersenkung, gab er auf Smartvote an, nachdem er die von Mitte-rechts jüngst geforderte moderate Senkung noch als «Symbolpolitik» abgetan hatte. «Steuersenkung ja, aber erst, wenn der Investitionsnachhol­bedarf abgedeckt ist», schrieb er danach auf Twitter. «Ob 2017 der Fall, noch nicht abschätzbar.» Mit anderen Worten: ja, unbedingt. Grundsätzlich. Irgendwann. In einer besseren Welt.

Beim Fototermin zögerte er bei der Vorgabe dieser Zeitung, ein Hobby zu zeigen. «Ich habe kein Hobby», sagte er. «Mein Leben ist dafür zu ausgefüllt.» Das Aarebad an einem garstigen Oktobermittwoch wählte er deshalb nicht zuletzt, «um für das gesunde Aare­schwimmen an 365 Tagen zu ­werben». Augenzwinkernd protestiere er damit auch gegen den späten Termin der Berner Wahlen. Kandidierende wissen erst Ende November, ob sie binnen vier Wochen ein neues Amt übernehmen. «Wären die Wahlen im September, hätte ich im August in die Aare steigen können.»

Bilder: Stefan Anderegg
Text: Christoph Hämmann
Umsetzung: Claudia Salzmann
Video: Claudia Salzmann

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