Es ist 15.45 Uhr, Zeit für die Quartiere. Valentina Merz und Kim Bigler (beide 20) aus dem Brunnmattquartier betreten die Taube. Vor einem halbe Jahr haben sie die Kulturbar Werkhof 102 er­öffnet – nur ein Jahr nach der Matura. Sie grüssen This Dauwalder (35), der für die alte Feuerwehrkaserne Viktoria im Breitenrain gekommen ist. Daneben sitzen Rahel Bucher (38) vom Kultur-und Gastrobetrieb Heitere Fahne in Wabern und Christian Herren, der mit 24 Jahren schon eine Galerie und ein Museum gegründet hat und 2015 die Bar Zeppelin in der Lorraine eröffnete.
BZ: Unsere These: Das Berner Nachtleben breitet sich langsam in die Quartiere und Vororte aus.
Valentina: Das wäre schön, aber ich weiss nicht, ob das wirklich funktionieren kann. Es wird immer Orte geben, wo man wohnt, und solche, wo man feiert.
Rahel: Nach Wabern weitet sich das Nachtleben bestimmt nicht aus. Es finden viele Menschen den Weg aus der Stadt zu uns. Aber weniger für den klassischen Ausgang, sondern für einen besonderen Abend mit Kultur und Essen.


Rahel Bucher darüber, wie die Gäste von der Heitere Fahne zurück in die Stadt gehen.

Christian: In Basel findet das Nachtleben in den Quartieren, links und rechts des Rheins, statt. In Bern sind ab einem gewissen Moment alle rund um das Bollwerk unterwegs. Wäre es nicht erfreulich, wenn die Quartiere auch hier eigenständiger würden?
Kim: Wir müssen die Balance zwischen lauter Musik und zufriedenen Nachbarn finden, weil sich unser Lokal in einem Wohnhaus befindet. In den Quartieren zu feiern, ist schwierig.
This: Die Lorraine wäre wohl das einzige Quartier, in dem ein Nachtleben möglich wäre. Bei uns im Viktoria ist das auch kein Thema. Neben dem Gastrobetrieb Löscher haben wir fast zwanzig Projekte aus allen Alterskategorien und einen Tages- und Abendbetrieb, der relativ früh aufhört.

BZ: Warum seid ihr überhaupt in den Quartieren?
Christian: Wir wollten mit unserer Bar nicht unbedingt in die Lorraine, aber in der unteren Altstadt haben die Reklamationen und die hohen Mietpreise gesiegt. Jetzt wird der Zeppelin renoviert.
Rahel: Wir leben vom Zauber des alten Theatersaals und der ur­chigen Beiz. So was gibt es in der Innenstadt nicht. Das hat Charme.
This: Und die alte Feuerwehr­kaserne ist nun mal dort, wo sie ist. In der Stadt sind keine so grossen Lokalitäten verfügbar.
Valentina: Wir sind im Brunnmattquartier, weil wir den Raum dort mieten konnten und weil es im Quartier fast nichts gegeben hat. Und wir sind da aufge­wachsen. Das hat sich ergeben.
BZ: Christian, du sagst, dass die Berner nicht mutig sind. Ist das ein Problem für das Nachtleben?
Christian: Damit meine ich vor ­allem meine eigene Generation. Die 35-Jährigen haben viel gemacht und gegründet. Die Leute zwischen 20 und 26 richten sich oft nach diesen Projekten und reissen selbst weniger an.
Valentina: Liegt das nicht daran, dass man so jung noch nicht die Möglichkeit hat? Viele unserer Freunde hätten das genauso hinbekommen, aber es ist zu riskant mit dem ganzen Geld, das man investiert.
Christian: Die vom Wasserwerk waren ja auch jung, als sie angefangen haben. Sie hatten halt weniger Angst vor dem Scheitern. Heute wird oft alles durchgeplant: Nach dem Abschluss das Auslandsemester und dann Karriere.
Rahel: Lustig, dass du das sagst: Je älter ich werde, desto grösser wird der Mut, etwas zu wagen.
Christian: Ach wirklich?
Rahel: Vor fünfzehn Jahren dachte ich, wenn ich mal eine Familie habe, muss ich so und so sein. Jetzt habe ich zwei Kinder, verdiene sehr bescheiden und habe an Freiheit gewonnen. Ich kann etwas aus Leidenschaft und für die Gemeinschaft tun.
This: (an die Frauen vom Werkhof) Erinnert ihr euch, als ich zum ersten Mal bei euch war? Ich habe gefragt, ob ihr das Gefühl habt, mutig zu sein. Weil mir das oft gesagt wurde, aber ich finde es eher naiv. Man fällt einen Entscheid und war zu dumm, zu realisieren, was das wirklich bedeutet.
Alle lachen.
Kim: Wir dachten, die Zweifel lägen daran, dass wir noch so jung sind. Aber ich merke, dass es euch ganz ähnlich geht. Valentina: Der Werkhof war ein Risiko, aber es bringt nichts, da­rüber nachzudenken. Wir glauben daran. Wenn du das ausstrahlst, lockst du die Leute an.
BZ: Fühlt ihr euch von den Stadt­behörden unterstützt oder gebremst?
This: Ich habe es oft falsch gemacht und gefragt: Wieso geht das jetzt nicht? Man muss dazulernen und mit der Haltung ins Gespräch gehen: Wie können wir zusammen eine Lösung finden? Dann ist die Wertschätzung da. Wenn man mit dem Kopf durch die Wand will, geht es nicht.
Rahel: Wir gehen proaktiv auf Behörden und Nachbarn zu und haben damit gute Erfahrungen gemacht. Wenn die Leute merken, dass du offen bist, helfen sie dir. (etwas leiser) Oder drücken mal ein Auge zu.
BZ: Was macht den typischen Berner Gast aus?
This: Der Berner ist ein extrem rücksichtsvoller, angenehmer, anständiger Mensch. Ein Zürcher steht ihm auf den Fuss, und der Berner entschuldigt sich.


Valentina Merz über die Gäste, die im Werkhof einkehren.

Rahel muss gehen, um ihre Kinder aus der Kita abzuholen. This verabschiedet sich ebenfalls. Im hinteren Teil der Bar justiert ein Adrianos-Mitarbeiter lautstark die Kaffeemaschine. Es ist 16.50 Uhr, als die ersten Gäste die Taube betreten. «Dürfen wir uns schon setzen?» – «Lieber nicht», antwortet Ben. «Die da sind noch nicht fertig.» Valentina winkt einem Bekannten, der draussen mit seinem Sohn am Fenster steht. Es dämmert langsam.
BZ: Warum braucht es den Ausgang überhaupt?
Christian: Der soziale Aspekt, sich treffen, das ist der Inbegriff eines Restaurants oder einer Bar. Oder wenn du allein hingehst, dann, um in einer anderen Welt zu sein. Für einen Tapeten­wechsel gehe ich gern auf einen Espresso in eine Bar.
Kim: Es sind Orte, an denen man unterhalten wird. Nach einem Tag vor dem Compi kann man hingehen und geniessen. Valentina: Der soziale Aspekt ist sehr wichtig. Man muss Orte schaffen, wo man sich treffen und Freundschaften pflegen kann. Einfach mal weg vom Virtuellen.