Die Jihadistinnen

Der Islamische Staat setzt beim Terror seit neuestem auf die Frauen. Sie sind oft noch radikaler als die Männer.

Propagandafoto des Islamischen Staates, Raqqa, 2014, Syrien

Propagandafoto des Islamischen Staates, Raqqa, 2014, Syrien


Titus Plattner
recherchedesk@sonntagszeitung.ch

Das Geld für das Attentat verdient sich die 19-jährige Inès M. mit Babysitting. Als sie genug zusammen hat, kauft sie sechs Flaschen Propangas und drei Kanister Benzin. Gesamtgewicht: 80 Kilogramm.

Am 4. September letzten Jahres verstaut die junge Frau zusammen mit ihrer Freundin Ornella G., 29, die hochexplosiven Substanzen im Peugeot 607 ihres Vaters. Die beiden parkieren das Auto bei der Kathedrale Notre-Dame in Paris.

Als Zünder dient ihnen eine Zigarette. Sie soll eine Decke in Brand stecken, die mit Brandbeschleuniger getränkt ist. Schieres Glück verhindert die Detonation. Die Zigarette geht zu früh aus.

.

Das Auto der Attentäterinnen gefüllt mit Gasflaschen und Benzin, 150 Meter von der Kathedrale Notre-Dame entfernt. Foto: AFP

Das Auto der Attentäterinnen gefüllt mit Gasflaschen und Benzin, 150 Meter von der Kathedrale Notre-Dame entfernt. Foto: AFP

Abschiedsbrief der 19-jährigen Attentäterin Inès M. Foto: Polizei

Abschiedsbrief der 19-jährigen Attentäterin Inès M. Foto: Polizei

Vier Tage später wird Inès M. verhaftet, zusammen mit zwei weiteren jungen Frauen, einer 23- und einer 39-Jährigen. Sie planen bereits ein neues Attentat in der Hauptstadt – diesmal beim Paris-Gare de Lyon.

Als die Einsatzkräfte versuchen, Inès M. niederzuringen, rammt sie einem Polizisten ein Küchenmesser in den Bauch. In ihrer Hand­tasche finden die Ermittler einen Brief, in dem sie dem Islamischen Staat (IS) die Treue schwört:

«Ich antworte auf den Aufruf von Abu Muhammad al-Adnani. Ich greife euch in eurem eigenen Land an. Ich bringe euch den Terror, damit ihr niemals vergesst.»

«Ich bringe euch den Terror, damit ihr niemals vergesst.»

Die Anweisungen für das Attentat erhält Inès M. über die App Telegram. Und zwar von einem Mann namens Rachid Kassim. Für Schweizer Ermittler ist das kein Unbekannter.

Ein Insider versichert, dass Kassim an der Jihad-Reise von drei jungen Schweizern beteiligt war, die bis ins syrisch-türkische Grenzgebiet gelangten, womöglich gar bis in den Machtbereich des IS. Bei ihrer Rückreise wurden sie verhaftet.

Gemäss dem Antiterrorzentrum der US-Militärakademie West­point stand Kassim von Syrien aus in Verbindung mit Hunderten radikalisierten Jugendlichen in ganz Europa. Darunter sehr viele junge Frauen.

Heute weiss man: Gerade die Jihadistinnen sind viel gefährlicher als angenommen.

.

Screenshot eines verschlüsselten Gesprächs mit einem Rekrutierer des Islamischen Staates. Foto: France 2

Screenshot eines verschlüsselten Gesprächs mit einem Rekrutierer des Islamischen Staates. Foto: France 2

Frankreichs Generalstaatsanwalt François Molins warnt vor Anschlägen von Frauen. Foto: Keystone

Frankreichs Generalstaatsanwalt François Molins warnt vor Anschlägen von Frauen. Foto: Keystone

«Bislang gingen wir davon aus, dass der IS die Frauen vor allem als Behüterinnen der Familie und des Haushaltes sah», sagte Frankreichs Generalstaatsanwalt nach dem Attentatsversuch vor Notre-Dame. «Jetzt müssen wir feststellen, dass dieses Bild nichts mit der Realität zu tun hat.»

Die französischen Ermittler sind nicht allein. Die Notre-Dame-Bombe führte zu einem Umdenken bei zahlreichen Strafverfolgern in Europa bezüglich der Terrorgefahr, die von Frauen und Mädchen ausgeht.

Die Ermittler kommen von der Vorstellung ab, Frauen seien in der Regel Opfer, Abhängige oder zumindest manipuliert von radikalisierten Männern. Der oberste Ermittler Frankreichs sagt heute: «Der IS macht die ­Frauen jetzt zu Kämpferinnen.»

«Der IS macht die ­Frauen jetzt zu Kämpferinnen.»

Wie dramatisch sich die Lage ändert, erkennt man anhand der Verhaftungen. Gemäss Europol wurden 2013 in ganz Europa lediglich sechs Frauen aufgrund mutmasslicher islamistischer Straftaten verhaftet. 2014 waren es 52, 2015 bereits 128. Schon jetzt ist klar, dass die Zahl letztes Jahr noch einmal deutlich gestiegen ist.

Auch bei den Jihad-Reisen nach Syrien ändert sich die Lage. Ein Insider mit Zugriff auf die neuesten Zahlen von 2016 sagt, bei den Syrien-Reisenden sei der Anteil vor allem ganz junger Frauen deutlich gestiegen. Ein anderer Experte bestätigt diese Einschätzung. Er sagt, die Situation sei «alarmierend».

Hintergrund der vermehrten Gewalt von Frauen ist deren Radikalisierung, die während Jahren von Ermittlern unterschätzt wurde. Mittlerweile ist klar, dass ­Frauen in Sachen Fanatismus den Männern in Nichts nachstehen.

Das zeigt sich auch in der Schweiz. Hierzulande sind zwar bislang erst eine Handvoll Frauen bekannt, die in den Jihad zogen, doch sie äussern sich gleich fanatisch wie die Frauen in Belgien oder Frankreich.

.

Eine 29-jährige Konvertitin aus Winterthur radikalisierte sich in kürzester Zeit via Internet. Foto: Facebook

Eine 29-jährige Konvertitin aus Winterthur radikalisierte sich in kürzester Zeit via Internet. Foto: Facebook

Opfer des Terroranschlages im Pariser Bataclan, 13. November 2015. Foto: Getty Images

Opfer des Terroranschlages im Pariser Bataclan, 13. November 2015. Foto: Getty Images

Zum Beispiel eine 29-Jährige Konvertitin aus Winterthur. Sie lebt bis 2015 mit ihrem damals dreijährigen Sohn in Ägypten. Dann radikalisiert sie sich innert weniger Monaten. Sie hört unter anderem Predigten des deutschen Islamisten Pierre Vogel via Internet.

Ende 2015 verkauft sie ihre Haushaltsgeräte über das Internet, besorgt sich mit dem Geld Tickets für die Reise nach Syrien, schnappt sich das Kind und bricht am Weihnachtstag 2015 auf. Es ist der vierte Geburtstag ihres Sohnes. Ihr Ziel: Raqqa, die Hauptstadt des IS.

Doch die Schweizerin wird bereits am griechischen Grenzposten Kipoi gestoppt. Die griechische Presse zitierte aus den Vernehmungsprotokollen der griechischen Polizei.

Demnach gab die Schweizerin freimütig zu, zum ­Islamischen Staat reisen zu wollen. Sie wolle «weitere Soldaten Allahs gebären», steht in den Protokollen.

Sie wolle «weitere Soldaten Allahs gebären».

Vor dem Richter sagt sie gemäss den anwesenden Journalisten, sie «schäme sich», Schweizerin zu sein.

Inzwischen ist die Winterthurerin an die Schweiz ausgeliefert worden. Das Kind ist bei ihrem früheren Mann in Ägypten. Sie erwartet ihren Prozess wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, wie die Bundesanwaltschaft bestätigt.

Seit 2015 häufen sich die Meldungen von Frauen, die sich öffentlich für den Frontdienst oder gar für Attentate melden, wie Inès M. in Paris. Oder die sich eine aktive Rolle zumindest wünschen, wie Kahina, die Frau von Samy Amimour, einem der Terroristen, die am 13. November 2015 Paris mit Attentaten überzogen.

Kahina reist mit 17 nach Syrien und heiratet dort den späteren Attentäter. In der Pariser Anschlagsnacht dringt ihr Mann mit zwei Komplizen in das voll besetzte Pariser Bataclan-Theater ein und schiesst mit einem Sturmgewehr in die Zuschauermenge. 61 Männer und 29 Frauen sterben. Die jüngste ist erst 17.

Drei Tage später schreibt Kahina, die nun die Witwe eines «Märtyrers» ist, ein E-Mail an ihren ehemaligen Gymnasiallehrer.

«Bist du schockiert von den Attentaten?», fragt sie und fügt die Abkürzung «LOL» an. Sie steht für «laut herauslachen». «Einer der Attentäter des Bata­clan war mein Mann, Samy Amimour. Er hat sich in die Luft gesprengt, hamdoulilah (Gott sei Dank).»

Im Weiteren erzählt sie, dass sie von Beginn an bei der Planung dabei war. «Ich habe meinen Mann ermutigt, den Terror zu den Franzosen zu tragen. (...) Ich beneide ihn so. Ich wäre gern bei ihm gewesen, um mich mit ihm in die Luft zu sprengen.»

.

«Keine Frau geht heute nach Syrien gegen ihren Willen.»

Soziologin Géraldine Casutt hat für ihre Forschung seit über drei Jahren Kontakt mit rund 20 radikalisierten Frauen. Foto: Charly Rappo/«La Liberté»

Soziologin Géraldine Casutt hat für ihre Forschung seit über drei Jahren Kontakt mit rund 20 radikalisierten Frauen. Foto: Charly Rappo/«La Liberté»

Inzwischen befassen sich zahlreiche Experten und Expertinnen mit dem Phänomen der Jihadistinnen. Eine der renommiertesten weltweit ist ­Géraldine Casutt, Soziologin an der Universität Freiburg.

Sie steht seit über drei Jahren mit rund 20 Frauen in Kontakt, die in den Jihad aufbrechen wollen oder bereits in Syrien sind. Sie korrespondiert regelmässig mit ihnen via Twitter oder Facebook, «oft in der Nacht», fügt die Forscherin im Gespräch an.

Mehrere ihrer Kontaktpersonen sind derzeit in Syrien. Sie gehen vor Ort ins Internetcafé, um sich mit Casutt auszutauschen. Sie erzählen der Schweizerin aus ihrem täglichen Leben und geben Einblick in die Gründe für ihre Reise.

Als Erstes räumt die Forscherin mit dem Klischee auf, dass Jihadistinnen zu irgendetwas gezwungen werden. «Sie brechen auf, weil sie das selber so entschieden haben», sagt Casutt. «Keine Frau geht heute nach Syrien gegen ihren Willen.»

«Praktisch alle lebten mit einer dominanten Mutter und hatten einen Vater, der nie zu Hause war.»

Die Lebenswege seien sehr unterschiedlich, doch gewisse Muster wiederholten sich. «Praktisch alle lebten mit einer dominanten Mutter und hatten einen Vater, der nie zu Hause war», sagt Casutt. Und: Sehr viele der jungen Frauen berichteten ihr von einer schmerzhaften und enttäuschenden ersten Liebe.

Gerade solchen Frauen gaukelt der IS ein besseres Leben vor. «Wenn ein Ehemann beim IS als schlechter Muslim in Verruf gerät, wenn er zum Beispiel betrügt, dann ist es für die Frau kein Problem, sich rasch scheiden zu lassen und einen neuen Mann zu suchen», sagt Casutt.

In Syrien, so die Idee, könnten Frauen sich einen «echten Muslim» suchen, der sie respektiere.

.

Das Bild eines heroisches Lebens: Propagandamaterial des Islamischen Staates richtet sich gezielt an junge Europäerinnen.

Das Bild eines heroisches Lebens: Propagandamaterial des Islamischen Staates richtet sich gezielt an junge Europäerinnen.

Die sich an Frauen richtende IS-Propaganda betont diesen Punkt immer wieder, und sie findet gerade bei jungen Mädchen Gehör, die von Männern enttäuscht oder misshandelt wurden.

Der US-Terrorexperte Dallin Van Leuven weist darauf hin, dass viele junge Frauen eine Reise nach Syrien als Akt der Befreiung und der Selbstbestimmung sehen. Zahlreiche Somalierinnen aus Schweden oder Grossbritannien gingen nach Syrien, um vor dem immensen Druck zu fliehen, den ihre Familien und Verwandten auf sie ausübten.

«Viele flüchteten vor Zwangsehen», sagt Van Leuven. «Den Nikab oder die Verbote im täglichen Leben sehen diese Frauen als geringe Einschränkungen an im Vergleich zu ihrem Leben zu Hause. Sie sehen ihre Reise in den Jihad als einen Weg, ihr eigenes Leben zu kontrollieren.»

«Viele flüchteten vor Zwangsehen.»

Die Realität in Syrien ist allerdings nicht glamourös.

Viele Frauen berichten, wie ihre Kinder systematisch radikalisiert werden. Die Kleinen müssen sich Videos ansehen, in denen Menschen enthauptet oder verbrannt werden.

Jojo, der elfjährige Sohn der berüchtigten Jihadistin Sally Jones, einer Konvertitin aus Grossbritannien, wurde so weit indoktriniert, dass er im Tarnanzug einem Gefangenen des IS vor laufender Kamera in den Kopf schoss.

.

Bewaffnet in der IS-Hauptstadt Raqqa, 2014: Eine Frau bringt ihr Kind zur Krippe. Foto: France 2

Bewaffnet in der IS-Hauptstadt Raqqa, 2014: Eine Frau bringt ihr Kind zur Krippe. Foto: France 2

Jojo, der 11-jährige Sohn der britischen Jihadistin Sally Jones, wurde vom IS zum Killer erzogen.

Jojo, der 11-jährige Sohn der britischen Jihadistin Sally Jones, wurde vom IS zum Killer erzogen.

Und alle Experten bestätigen, dass die Rolle der Frauen derzeit auch in Syrien immer wichtiger wird. Der ebenso einfache wie makabre Grund: Die Männer sterben dem IS weg.

Wenn es so weitergeht, werden die Frauen bald die Mehrheit der westlichen Jihadisten in Syrien stellen.

2013 waren nur zehn Prozent der IS-Jihadisten aus dem Westen Frauen. Heute hat sich ihr Anteil mehr als verdreifacht. Allein unter den französischen Jihad-Reisenden sind heute 40 Prozent Frauen, insgesamt sind es 275.

Für die Frauen ist eine Rückkehr ausserdem schwieriger als für die Männer. Fast alle Jihadistinnen werden in Syrien Mutter. Wollen sie zurück, nehmen sie die Kinder mit, was sie vor grosse Probleme stellt. Insbesondere, weil keine Frau im Hoheitsgebiet des IS allein reisen darf.

Viele haben auch Angst, dass man ihnen in Europa ihre Kinder wegnimmt. Das alles führt dazu, dass heute die Frauen nur zehn Prozent der Rückkehrer ausmachen.

«Der Westen muss diesen jungen Frauen und auch ihren Kindern eine Perspektive bieten.»

«Der Westen muss diesen jungen Frauen und auch ihren Kindern eine Perspektive bieten», sagt Terrorexperte Van Leuven. Die Europäer hätten jetzt das Problem, dass in Syrien Hunderte Kinder westlicher Jihadistinnen aufwachsen. Die meisten von ihnen sind noch weniger als vier Jahre alt. Soll man sie dem Krieg überlassen?

Vor allem um die Kinder und Jugendlichen müsse man sich kümmern, sagt Van Leuven. Wenn nicht, kommen sie womöglich als Attentäter zurück – auch die jungen Mädchen.

Vor zehn Tagen verhinderten französische Spezialeinheiten einen Terroranschlag nahe Paris und nahmen eine Gruppe radikaler Islamisten fest. Unter ihnen Sara. Sie ist 16.

.

© Tamedia