Bewunderer amüsieren sich im Paul-Scherrer-Institut in Würenlingen am Schwimmbadreaktor «Saphir».

Er war an vorderster Front dabei, als die Schweizer Industrie auf die Atomtechnik aus den USA umsattelte: Der einstige Atomdelegierte Urs Hochstrasser (90), links im Bild.

Der Kronzeuge lebt noch

Urs Hochstrassers Haar ist weiss geworden. Detailreich erzählt der 90-Jährige in seinem Haus in Muri bei Bern aus den 1960er-Jahren, als er Atomdelegierter des Bundesrates war. Seither hat er den Ruf, in der Schweiz als Cheflobbyist die Atomkraft durchgesetzt zu haben. Hochstrasser dementiert lächelnd:



Er sei bloss der Berater und Ghostwriter des Bundesrates Willy Spühler gewesen. Von der Richtigkeit seiner damaligen Mission ist Hochstrasser bis heute überzeugt. Die Energiewende hält er für einen Fehler. Offen räumt Hochstrasser ein, dass er «eine Mitverantwortung dafür trage», dass Schweizer Energieunternehmen in den 1960er-Jahren auf die neue Nukleartechnik setzten.

Die Energiebranche steht damals vor einer Weichenstellung. Ausgerechnet im globalen Wachstumsschub in den 1950er-Jahren, als sich der Stromverbrauch in der Schweiz innert 10 Jahren verdoppelt, stösst der Ausbau der Wasserkraft an Grenzen. Wirtschaftlich attraktive Standorte sind nicht mehr zu finden. Auch weil in den 1940er-Jahren Stauseeprojekten Widerstand erwächst aus der lokalen Bevölkerung, die nicht umgesiedelt werden will. Hinter dem Widerstand der 1950er-Jahre ist dann eine neue Kraft wirksam: der Natur- und Landschaftsschutz.

Die Strombranche muss neue Energiequellen suchen. Die Zeit drängt, denn im sich modernisierenden Industriestaat wächst der Energiehunger. Das tut er auch, weil ihn die Unternehmen aktiv ankurbeln. So pusht die BKW mit einer Mischrechnung aus hohen Tagesstromtarifen und tiefen Nachstromtarifen die Verbreitung von Elektroheizungen in den Privathaushalten.

Weil 1962 das monströse «Oberlandprojekt» der BKW mit Speicherseen zwischen Lauterbrunnen und Adelboden scheitert, setzt der Konzern auf ein ölbefeuertes Kraftwerk im Seeland. «Gegen solche Pläne gab es aber heftige Proteste, weil bei der Verbrennung des Öls Rauchgase ausgestossen werden, die sauren Regen auslösen können», erinnert sich Hochstrasser.

«Die Energiewende halte ich für einen Fehler.»

USA weibeln für Atomkraft

Die Wasserkraft ist blockiert, Ölkraftprojekte sind diskreditiert. Das ist eine einmalige Chance für die junge Atomenergie. Und für den jungen ETH-Atomphysiker und Computerspezialisten Urs Hochstrasser, der ab 1955 im Computation Laboratory des National Bureau of Standards in der US-Hauptstadt Washington wirkt.

Kein Geringerer als der mächtigste Mann der Welt propagiert damals die neue Energietechnik. Am 8. Dezember 1953 schlägt US-Präsident Dwight D. Eisenhower vor der UNO in New York in seiner legendären Rede «Atoms for peace» eine internationale Kooperation zur zivilen Nutzung der vorher durch die Atombombe verfemten Technik vor:



1956 schliesst die Schweiz mit den USA den erforderlichen Staatsvertrag zur Teilnahme am Atomprogramm ab. Für dessen Umsetzung fehlt es aber im diplomatischen Dienst an Fachkenntnis. «Probeweise für ein Jahr» habe man ihn als Kenner der Materie 1958 an der Schweizer Botschaft in Washington angestellt, erzählt Hochstrasser. 1961 tritt er in Bern den frei gewordenen Job des Atomdelegierten an.

«Ohne die verständnisvolle Hilfe des Bundes hätte die Schweizer Elektroindustrie ihren nuklearen Rückstand nicht aufgeholt», erzählt Hochstrasser. Die Schweizer Unternehmen, die Anlageteile für Elektrizitätswerke exportieren, sehen die Gefahr, dass künftig nur noch Atomkraftwerke gebaut werden. Deshalb setzen die Firmen auf den Staatsvertrag von 1956, der es ihnen ermöglichen soll, ihre Produkte der neuen Technik anzupassen und sogar eine eigene Reaktortechnik zu entwickeln.

Die Schweizer Armee verfolgt zwar schon seit 1946 Pläne für eine atomare Bewaffnung der Luftwaffe, die später aufgegeben werden. Die erste Nuklearanlage der Schweiz aber wird aus den USA importiert. An die «Atoms for Peace»-Konferenz von 1955 in Genf bringt die US-Delegation einen kleinen «Schwimmbadreaktor» mit, den in Genf 62'000 Schaulustige bewundern. Er erhält den Namen Saphir und wird im Institut des Physikers und Atompioniers Paul Scherrer in Würenlingen AG betrieben.


Besuch der Schweizer Botschafter im Reaktor Würenlingen, aufgenommen im Jahr 1966. Der von den USA an der Genfer Konferenz 'Atoms for Peace' im August 1955 vorgestellte Versuchsreaktor wurde von der Reaktor AG gekauft und kam in der Nähe von Würenlingen zum stehen.

Ab 1962 baut die «Nationale Gesellschaft für die industrielle Atomtechnik» (NGA), ein Konsortium der Schweizer Maschinenindustrie, in einer eigens gegrabenen Kaverne in Lucens im waadtländischen Broyetal einen Schweizer Reaktortypus, der 1968 in Betrieb geht.

Da in der Schweiz noch keine Atomtechnik verfügbar ist, macht Urs Hochstrasser seinen Chef, den sozialdemokratischen Bundesrat Willy Spühler, darauf aufmerksam, dass die im Reaktorbau erfahrenen US-Energiekonzerne General Electric und Westinghouse den Bau schlüsselfertiger Atomkraftwerke günstig anbieten. Sofort forciert Spühler das angelaufene nukleare Technologieförderungs- und Forschungsprogramm des Bundes.

Hochstrasser hat dabei eine heute undenkbare Doppelrolle inne:



Dem damals schon geäusserten Vorwurf, die Atomenergie werde mit staatlicher Macht implementiert, hält Hochstrasser entgegen, er habe die Forschung und Entwicklung den Hochschulen und der Privatindustrie überlassen. Sein ihm unterstelltes Büro habe damals nur wenige Angestellte umfasst.

Im Februar 1964 referiert er in Baden vor dem Verwaltungsrat der Nordostschweizer Kraftwerke NOK, der heutigen Axpo, über die Vorzüge der Atomenergie. ­Offenbar erfolgreich. Denn die NOK ordern bei Westinghouse das erste AKW der Schweiz, das 1969 in Beznau in Betrieb geht.

Das Schweizer Industriekonsortium, das die Anlage von Lucens gebaut hat, gibt 1966 den Traum von einem Schweizer Atomreaktor auf. Und Urs Hochstrasser tritt 1969 als Atomdelegierter ab. «Als Schweizer Energieunternehmen kommerziell eigene AKW betrieben, sah ich meinen Auftrag als erfüllt an», sagt er. Er wird dann erster Direktor des Bundesamts für Bildung und Wissenschaft.

Die erste Nuklearanlage der Schweiz wird aus den USA importiert.

Der Versuchsreaktor des Schweizer Industriekonsortiums in der Kaverne von Lucens.

Bauarbeiter in Lucens im Jahr 1965.

Vier Jahre später wurde der Versuchsreaktor durch eine Kernschmelze zerstört.

Kernschmelze in Lucens

Vor seinem Abgang muss Hochstrasser auf Wunsch der NGA der Öffentlichkeit noch mitteilen, dass der Versuchsreaktor des Schweizer Industriekonsortiums in der Kaverne von Lucens am 21. Januar 1969 durch eine Kernschmelze zerstört wurde. Auf der Ines-Gefahrenskala von 0 bis 7 gilt die Havarie von Lucens als Unfall der Stufe 5. Die strahlenden Trümmer bleiben jahrzehntelang im Fels eingeschlossen.

Später wird Hochstrasser vorgeworfen, die Havarie von Lucens als «Zwischenfall» verharmlost zu haben. «Gemäss Atomgesetz liegt erst dann ein Unfall vor, wenn Umwelt und Menschen zu Schaden kommen, was in Lucens nicht der Fall war», verteidigt er sich. Und betont, sein Vertrauen in die Sicherheit der Schweizer AKW sei ungebrochen. Der Unfall von Lucens beunruhigt die Schweiz damals kaum. Das Land wird von einem noch ungebrochenen Fortschrittsglauben angetrieben. Ausdruck davon ist etwa die Euphorie über die Landung von US-Astronauten auf dem Mond. Für die Atomenergie öffnet sich gerade ein Zeitfenster, in dem sich verschiedene Stimmungen ideal bündeln. Sie empfiehlt sich als schlanke und saubere Alternative zu monströsen Stauanlagen wie auch zu ölthermischen Dreckschleudern.

Selbst der Schweizerische Bund für Naturschutz, heute unter dem Namen Pro Natura atomkritisch, rät 1966 in seinem Verbandsorgan, «direkt den Schritt zur Atomenergie zu tun», die das Wasser reinhalte und die natürliche Landschaft nicht verunstalte. Es ist eine Stimme aus einer versunkenen Epoche, in der die Atomenergie wie eine Zauberkraft alle Probleme zu lösen schien.

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