Suzanne Thoma und Urs Gasche verkünden der Öffentlichkeit, dass sie das erste AKW der Schweiz abstellen werden.

Das Überangebot von deutscher Windenergie lässt den Strompreis abstürzen.

Zurück ins Jahr 2011: Das AKW Mühleberg steht im Sommer schon vor der Jahresrevision still. Die Crew arbeitet unter Hochdruck. Mit einem Floss in der Aare werden die Ansaugstutzen der Kühlwasserzufuhr auf dem Grund des Flusses revidiert. Der AKW-Angestellte Max Wittwer erhält den Auftrag, alle Halterungen für Gasflaschen an den Wänden zu verstärken, um sie den neuen Erdbebenvorschriften anzupassen. Er erzählt, wie er tüftelte, um stabilere Schrauben mit der Dicke der Wände in Einklang zu bringen.

Am 23. September erlaubt das Ensi, das AKW Mühleberg wieder hochzufahren. Trotz langfristigen Vorbehalten wegen der Risse im Kernmantel. Am 25. September ist das AKW wieder am Netz. Die Gegner sind enttäuscht und wittern einen Kuhhandel zwischen BKW und Ensi.

Verwaltungsratspräsident Urs Gasche, als BDP-Nationalrat ein ruhiger Politprofi, widerspricht dem Eindruck von einer grossen Hektik im Frühjahr 2011: «Wir waren bei der BKW damals weder in grosser Sorge noch in Panik.» Trotz Fukushima sei immer im Vordergrund gestanden, den Normalbetrieb des AKW seriös zu gewährleisten. Die vorzeitige Abschaltung für die Revision sei «ohne Druck von aussen erfolgt». Die BKW habe damit belegt, dass für sie die Sicherheit immer vorgehe.

Patrick Miazzas Stress

Als AKW-Leiter Patrick Miazza Ende 2011 abtritt und Martin Saxer Platz macht, munkelt die Berner Zeitung «Bund», der Chef sei «überraschend und überstürzt und unter dem Druck des Fuku­shima-Jahrs» abgetreten. Miazza selber äussert sich damals nicht.

Heute aber ist der 57-Jährige in der Konzernzentrale für ein Gespräch bereit. Mit einem Lächeln bestätigt der charmante Bilingue: «Die Belastung nach Fukushima war wirklich gross, es waren 7- Tage-Arbeitswochen mit wenig Schlaf.» Grösser als der Druck von aussen – durch die Proteste und die zeitlich engen Auflagen des Ensi – sei aber der innere Druck des verunsicherten Personals gewesen. «Wir mussten der Crew erklären, inwiefern sich die Sicherheitsanlagen in unserem Werk von denen in Fukushima unterscheiden.» Sein Ziel sei es in diesen atemlosen Wochen gewesen, die Anlage nach der Revision wieder ans Netz zu bringen, blickt Miazza zurück.

Erst als das geschafft war, habe er Zeit gefunden für die Frage, wie es nun für ihn weitergehe. Sein Abgang sei dann nicht überstürzt, sondern wohlüberlegt erfolgt. «Ich stand zehn Jahre vorne, das zehrt an den Kräften. Und ich kam zum Schluss, das Martin Saxer nun die bessere Galionsfigur sei.» Da er sich immer für die Energiepolitik interessiert habe, sei der Wechsel in die BKW-Strategieabteilung logisch gewesen.

Zweierlei Blick nach vorne



Im Dezember 2012 feiert die BKW mit einer internen Broschüre für die Mitarbeiter den 40. Geburtstag ihres AKW. Im Editorial kündigt der neue AKW-Leiter Martin Saxer optimistisch an, man werde das Werk «mit dem Herzblut der Mitarbeitenden, die die Anlage in einem ausgezeichneten Zustand erhalten haben, mindestens weitere zehn Jahre lang» betreiben.



Gleichzeitig wird in der BKW-Führungsetage schon die künftige Wirtschaftlichkeit des AKW Mühleberg evaluiert. «Wir machten nach Fukushima das, was Ingenieure gut können: rechnen, Modelle und Szenarien entwerfen», blickt Suzanne Thoma zurück. Anfang 2013 rückt die Netzchefin des Konzerns zur CEO der BKW auf. Bei der grossen Mischrechnung über die BKW-Zukunft spielen drei Faktoren eine zentrale Rolle. Die hohen Investitionskosten für neue Nachrüstungsauflagen des Ensi. Der durch das wachsende Angebot von deutschem Solar- und Windstrom abstürzende Strompreis. Und die Frage nach der künftigen Unternehmensstrategie der BKW.

In einem Sitzungszimmer am Hauptsitz berichtet Suzanne Thoma, dass man Anfang 2013 noch zwei Optionen verfolgt habe: Das AKW Mühleberg abstellen oder in seine Nachrüstung investieren, um von einem möglichen Anstieg des Strompreises zu profitieren. Dieser bleibt aber aus – und der Umbau der BKW zum nachhaltigen Energiekonzern schreitet voran.

Einstimmiger Ausstieg

Im Herbst 2013 springt der langjährige Atomkonzern über seinen eigenen Schatten. Die Konzernleitung entscheidet, das AKW Mühleberg abzustellen. Alle Modellrechnungen zeigen: Die erforderlichen Investitionen für den Weiterbetrieb sind mit dem tiefen Strompreis nicht mehr zu amortisieren. Musste dieser Schritt mühsam erkämpft werden? «Die Konzernleitung kam einstimmig zum Schluss, das Kernkraftwerk abzustellen, was der Verwaltungsrat einhellig mittrug», sagt Suzanne Thoma.



Neben ihr sitzt Hermann Ineichen (oben im Bild), zu dessen Geschäftsbereich Produktion das AKW gehört. Er räumt ein, dass der Ausstieg für ihn und sein Team «ein grosser Schritt» gewesen sei. Der Entscheid sei aber aus wirtschaft­licher Sicht für alle nachvoll­ziehbar gewesen. Suzanne Thoma beschreibt den Balanceakt in der Firma so: «Es war zentral, Hermann Ineichens Geschäftsbereich an Bord zu holen und sich genug Zeit zu nehmen, damit es zu keinem Zerwürfnis innerhalb des Unternehmens kam.»



Sind die BKW-Spitzen im Herbst 2013 zu Atomgegnern mutiert? «Nein, ich befürworte die Kernenergie wie auch alle anderen Technologien. Wir beweisen, dass man ein AKW sicher betreiben und dann auch stillegen kann», sagt Ineichen. Konzernchefin Thoma gesteht, dass die Entsorgung des Atommülls, die hundert Generationen belaste, ihre Zweifel an der Atomkraft nähren würden. Ist sie eine Atomgegnerin? Sie störe sich am unproduktiven Glaubenskrieg für oder gegen die Atomkraft, antwortet sie. «Die BKW fällte keinen politischen Entscheid für oder gegen die Atomkraft, sondern einen freiwilligen, unternehmerischen Entscheid», betont sie.



Die Konzernchefin räumt aber offen ein, dass sie ihr neues Amt unbelastet von der Mühleberg-Ära und mit «einem freien Kopf angetreten habe und den Abschaltentscheid als Signal ver­stehe: «Er machte den Weg frei für eine klare, kraftvolle und neue Strategie der BKW.»

Urs Gasche über den Schliessungsentscheid:

Letzter Sieg vor Gericht



Von dieser epochalen Neuorientierung bekommt die Öffentlichkeit vorderhand noch nichts mit. Vielmehr erringt die BKW noch einen grossen Sieg vor Gericht. Am 14. Mai 2013 weist das Bundesgericht die letzten Einsprachen ab und gewährt dem AKW Mühleberg die unbefristete Betriebsbewilligung.

Konzernchefin Suzanne Thoma und Verwaltungsratspräsident Urs Gasche können nun an der Medienkonferenz vom 30. Oktober 2013 (oben im Bild) aus einer Position der Stärke und ganz freiwillig verkünden, dass sie in Mühleberg das erste Atomkraftwerk der Schweiz abstellen werden.

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