Gut 15 Jahre lang werden über 300 Leute das AKW Mühleberg zurückbauen.

Sie werden reinigen, zerteilen und schweissen (wie dieser Abbrucharbeiter im deutschen AKW Lubmin-Greifswald).

Von der Atomkraft zurück zur grünen Wiese.

Die Hiobsbotschaft schlägt der Belegschaft des AKW Mühleberg auf den Magen. Am 30. Oktober 2013 sitzen morgens um 7.30 Uhr rund 300 Männer und ein paar Frauen in der Werkskantine. Nicht für das Frühstück, sondern um Suzanne Thoma und Hermann Ineichen zuzuhören. Die beiden BKW-Spitzen eröffnen ihnen, was sie um 10 Uhr auch den nationalen Medien in Bern verkünden werden: dass das Atomkraftwerk 2019 abgestellt und dann stillgelegt wird. Auch in der Kantine wird es nun still. Als ob nichts passiert wäre, fliesst draussen vor den hohen Fenstern gelassen die Aare durch die idyllische Auenlandschaft.

«Es gab keine unbeherrschten Äusserungen, aber einige verstanden die Welt nicht mehr», erinnert sich Kraftwerksleiter Martin Saxer. Kaum wird die Zusammenkunft aufgehoben, branden in Gruppen erregte Gespräche auf. AKW-Mitarbeiter Max Wittwer ist an jenem Morgen nicht in der Kantine. Als Mitglied der Personalkommission hat er den Entscheid schon am Vorabend erfahren. Viele suchen das Gespräch mit ihm.

«Der Entscheid war mit grossen Emotionen verbunden, mit einer Unsicherheit und dem Gefühl, dass sich die Zeiten ändern», fasst Wittwer die Stimmung zusammen. «Man war immer für das Werk eingestanden und bildete eine grosse Familie», beschreibt er das Selbstverständnis der Belegschaft.

Jetzt fühlt es sich auf einmal an, als werde die ganze Gross­familie aufs Altenteil geschickt. Und als sei die Technologie, die einst von Pioniergeist beseelt war, ein Auslaufmodell.

Der Schock der Mitarbeiter sei an jenem Morgen seine Hauptsorge gewesen, sagt Kraftwerksleiter Saxer. Vielen kommt der Schliessungsentscheid kurz nach der Erteilung der unbefristeten Betriebsbewilligung wie eine Kehrtwende vor. Saxer besucht während Tagen jede Schicht, führt zwei Jahre lang zahllose Gespräche und versucht, seine Leute an Bord zu behalten. Bis 2015 nehmen fast alle 350 Angestellten das Angebot an, beim Rückbau des AKW eine neue Rolle zu übernehmen. Nur zwei nicht.

«Man war immer für das Werk eingestanden und bildete eine grosse Familie»

Stecker vorzeitig raus?

Die gemächlichen Bernerinnen und Berner sind offenbar zufrieden, dass die Abschaltung erst in ein paar Jahren erfolgt. Am 18. Mai 2014 lehnen sie mit 66,3 Prozent Nein-Stimmen die kantonale Initiative «Mühleberg vom Netz» für eine sofortige Stilllegung deutlich ab. Der Fukushima-Schock von 2011 ist offenbar wieder abgeflaut.

Morgen Sonntag wird noch einmal über das AKW Mühleberg abgestimmt. Wenn die nationale Atomausstiegsinitiative der Grünen angenommen werden sollte, könnte es in Mühleberg doch noch zu einer vorzeitigen Abschaltung kommen. Ein Ja würde bedeuten, dass dem AKW schon im November 2017 und nicht erst wie geplant am 20. Dezember 2019 der Stecker gezogen wird.

Das langwierige Stilllegungsverfahren ist erst angelaufen. Die BKW erwarte die Stilllegungsverfügung des Bundesamts für Energie nicht vor Mitte 2018, sagt Philipp Hänggi, bei der BKW Leiter der Geschäftseinheit Nuklear. Er ist verantwortlich für die Stilllegung und den Rückbau des AKW. Würde es vorzeitig abgestellt, könnte das bedeuten, dass es dann schon stillsteht, aber noch nicht abgebrochen werden dürfte. Der Meiler würde keinen Strom mehr produzieren und kein Geld mehr abwerfen. Die BKW würde laut Hänggi für diesen Fall vom Bund eine Entschädigung fordern.

Fukushima-Schock von 2011 ist offenbar wieder abgeflaut.

Derniere in Allenlüften



Es ist der 5. April in diesem Frühjahr, als die Mühleberger und Mühlebergerinnen noch einmal zu einer AKW-Information in die Aula der Schulanlage Allenlüften (oben im Bild) eingeladen werden. Diesmal erläutern die BKW-Spitzen, wie das AKW stillgelegt und abgebaut wird. CEO Suzanne Thoma erhält für ihr Bonmot, es werde «ein Wermutstropfen sein, ein voll funktionstüchtiges Kernkraftwerk abzustellen», einen Zwischenapplaus.

In der Fragerunde sprechen Einheimische ins herumgereichte Mikrofon. Einer erinnert sich, wie ihn als begeisterten jungen AKW-Mitarbeiter «das Atom gekitzelt habe». Ein anderer schlägt augenzwinkernd vor, das Entsorgungsproblem zu lösen, indem man den Atommüll mit einer Weltraumrakete auf die Sonne schiesse, wo er verglühen würde. Ein AKW-Angestellter versichert, man werde das Werk so ­sicher abbrechen, wie man es ­betrieben habe. Sie stellen keine Fragen, sie blicken zurück. Sie nehmen Abschied.

Die Stimmung ist nicht nur in der Aula Allenlüften entspannt. Die BKW lädt NGOs und Atomgegner noch vor der Einreichung des Stilllegungsgesuchs zum Informationsgespräch. Die beschlossene Abschaltung des AKW macht es möglich, dass sich die zerstrittenen Lager im Glaubenskrieg um die Atomkraft annähern und am selben Tisch sitzen.

Die Atomgegner haben Fragen und Sorgen, erinnert sich Kritiker Jürg Joss an das Gespräch: Sie halten die rund 800 Millionen Franken in den verschiedenen Fonds für die Stilllegung aufgrund von Vergleichserfahrungen in anderen Ländern für viel zu knapp, sie fürchten, dass dann doch der Steuerzahler zur Kasse gebeten wird. Und sie fordern erfolglos, dass für die verbleibende Laufzeit nötige Nachrüstungen – etwa der Ersatz des Kernmantels mit den Rissen – erfolgen müssen. Dennoch verzichtet die Organisation Fokus Anti-Atom auf eine Einsprache, die die Stilllegung verzögern könnte. Die neue Transparenz hat sich für die BKW gelohnt. Sie ist eine Gegnerin losgeworden.



«Seit dem Stilllegungsentscheid und durch die Neupositionierung als nachhaltiges Energieunternehmen hat die BKW ein neues Image, sie befindet sich in einem positiven Mainstream», bestätigt CEO Suzanne Thoma. Ihr Konzern wird selbst von Gegnern für den freiwilligen Ausstiegsentscheid gerühmt. Die BKW hat das Momentum auf ihrer Seite: Wie ein Pionier hat sie in einer taumelnden Branche den Befreiungsschlag geschafft.

Die beiden anderen Schweizer Stromkonzerne, die AKW betreiben – die Axpo in Beznau und Leibstadt sowie die Alpiq in Gösgen –, kämpfen mit grösseren Problemen. Die Alpiq hat – gemäss Enthüllungen der Sonntagspresse – gar sondiert, ob sie ihre Anteile an den nicht mehr rentablen AKW Gösgen und Leibstadt an den Bund oder für einen Franken an Frankreich verscherbeln und so die Stilllegungskosten abwälzen könnte.

Letzte Einsprachen

Ein paar Einsprachen gibt es dann doch gegen das Stilllegungsverfahren im AKW Mühleberg. Die erste ist vom Berner Atomgegner Markus Kühni. Auch er war beim Vorgespräch mit der BKW zugegen. Die dort präsentierten Unterlagen zur Stilllegung enthalten für Kühni aber zu viele Widersprüche und offene Fragen. Er hat insbesondere Bedenken, dass der Abbruch des AKW schon beginne, bevor ein neues, erdbebensicheres Kühlsystem für das Lagerbecken der Brennelemente in Funktion sei. BKW-Stilllegungsleiter Philipp Hänggi dementiert diese Gefahr, da liege ein Missverständnis vor. Kühni aber hält an seinen Bedenken über verfrühte Rückbauschritte fest.



Auch Bauer Hansruedi Schlecht (unten im Bild mit seiner Familie), der den 350 Meter vom Reaktor entfernten Hof «uf em Horn» bewirtschaftet, versteht seine Eingabe nicht als Einsprache, sondern als Rechtsverwahrung, mit der er eine Entschädigung einfordern könnte. Für den Fall, dass wie bei der Filterkrise von 1986 Radioaktivität austreten und sein Land kontaminieren würde. «Ich will da weiter wohnen können», sagt Schlecht. Ja, räumt er ein, die Zerlegung der hoch radioaktiven Teile im AKW mache ihm Sorgen. Auch wenn die Informationspolitik der BKW ungleich viel besser ist als damals in der Filterkrise.


Roboter zerlegen AKW-Teile

Die Beruhigung der Anwohner gehört zu den Aufgaben von Philipp Hänggi (48), dem obersten Leiter des AKW-Rückbaus. Der kühle Schachspieler Hänggi ist ETH-Physiker und hat eine Laufbahn in der Schweizer Atombranche hinter sich. «Wir legen zwar das erste grössere Kernkraftwerk der Schweiz still, aber über den Rückbau von KKW gibt es schon viel Erfahrung und Wissen, das international ausgetauscht wird», relativiert Hänggi die Pionierrolle der BKW. Er selber steht in engem Kontakt mit den deutschen Konzernen, die die AKW in Philippsburg, Stade oder Obrigheim zurückbauen.

Die hoch radioaktiven Reaktorteile im Reaktorgebäude lasse man von erfahrenen externen Firmen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen von fernhantierten Robotern unter Wasser zerlegen, beruhigt Hänggi. «Die Technik ist nicht das Hauptproblem», sagt er, schwierig sei vielmehr das Management dieses Grossprojekts:

Von innen nach aussen

Wie legt man denn ein AKW still? Es sei ein Langstreckenlauf bis ins Jahr 2034, von dem man bis ins Jahr 2030 von aussen nichts sehen werde, erklärt Hänggi. Bloss rund zehn Lastwagentransporte im Tag werden darauf hinweisen, dass man das Werk von innen nach aussen auszuweiden beginnt. Zuerst muss man allerdings abwarten, bis die radioaktive Strahlung abklingt. Nach der Abschaltung werden die Brennelemente – immer noch im Reaktorgebäude – in das autonom gekühlte Brennelementlagerbecken umgelagert.


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Bis ins Jahr 2024 müssen Strahlung und Wärme der letzten Brennelemente so weit abklingen, dass sie ins nationale Zwischenlager (Zwilag) in Würenlingen (unten im Bild) transportiert werden können. Im Reaktorgebäude können nun die Roboter die Reaktorteile zerlegen. Im Maschinenhaus werden die Turbinen entfernt und Kabinen gebaut, in denen radioaktiv verseuchtes Material gereinigt wird. Sauberes Material wird zerkleinert und wenn möglich rezykliert, verstrahltes Restmaterial kommt ins Zwilag. Später, in einem erst noch zu bauenden Tiefenlager, wird der Atommüll aus Mühleberg weiter abklingen und dort das AKW um Tausende von Jahren überleben.



Wenn 2030 alle Gebäude frei von Radioaktivität sind, werden die Bauten des einst stolzen AKW abgebrochen. Sobald die Behörden das Gelände aufgrund von Messungen freigeben, kann auf der Runtigenmatte an der Aare wieder eine grüne Wiese für die Kühe entstehen, wie man sie noch auf der alten Schwarzweissfotografie von 1967 sieht. Vielleicht wird auf dem Gelände aber auch ein Technopark oder eine Gewerbefläche entstehen. Das wird die BKW laut Philipp Hänggi frühestens in zehn Jahren entscheiden.

Reicht das Geld bis 2034?



Kann er garantieren, dass sein Langzeitprojekt 2034 eine Ziellandung hinlegt? Hänggi kann diese Frage, die aus unserer kurzatmigen Zeit fällt, nicht abschliessend beantworten. Er weiss aber: «Die Kosten steigen dann, wenn wir mehr Zeit brauchen, denn die Hälfte der Still­legungskosten sind Personalkosten.» Sobald sich ein Teilprojekt verzögere und die Koordination der über 300 Angestellten erschwere, bedeute das mehr ­Kosten.

Wie die BKW ohne das AKW Mühleberg, diese jahrzehntelang sichere Einnahmequelle, im volatilen Energiegeschäft mit tiefen Strompreisen bestehen wird und ob sie der halb staatliche Konzern von heute bleiben kann, das wird sich erst weisen müssen. Wird sie in der unberechenbaren Zukunft wirklich genug Geld für die ­Abwicklung des AKW ansparen können?



CEO Suzanne Thoma ärgert sich über den vorauseilenden Pessimismus der Skeptiker. Man rechne dauernd nach, justiere die Beträge für die Stilllegung. Es dürfe für die Gegner offenbar fast nicht sein, dass das Geld reiche. Thoma wagt einen Vergleich: Mit der Frage, wie viel Geld 2035 im Topf der AHV sein werde, gehe man deutlich gelassener um. Obwohl es um eine viel grössere Summe gehe als bei der Still­legung des AKW Mühleberg.

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