Kühltürme sind für die Atomkritiker Zielscheibe des Volkszorns.

Analog und digital: Zwei Technikgenerationen im Mühleberger Kommandoraum. Lesen Sie, wie das AKW Mühleberg permanent nachgerüstet werden musste.

Permanente Nachrüstung

Der Eintrag hat einen stolzen Unterton: «Übernahme der Anlage», notiert Kraftwerksleiter Hans Rudolf Lutz am 6. November 1972 in sein Journal. An diesem Tag geht das Atomkraftwerk Mühleberg erstmals ans Stromnetz. Am Abend startet Betriebsgruppenleiter Guido Flury seine erste Kontrolltour und spürt die Verantwortung. «Ich hatte Respekt, aber keine Angst», erinnert er sich an sein Gefühl.

Die Inbetriebnahme des Werks hat über ein Jahr Verspätung. So lange dauern die Aufräumarbeiten nach dem Brand, der am 21. Juli 1971 das Maschinenhaus verwüstet hat. Nicht nur die Reparaturkosten von 22 Millionen Franken sind für die BKW schmerzhaft, sondern auch die Einsicht, dass der Brandschutz mangelhaft war. Trennwände werden nun errichtet, mehr Löschmaterial und Atemschutzgeräte bereit gestellt. Für eine Technologie mit Risiken wie die Atomkraft ist es ein Imperativ: Aus Schaden muss man klug werden.



Von Anfang an ist der Betrieb des AKW Mühleberg ein permanentes Optimieren. Betritt man den Kommandoraum, springt einem der technische Wandel ins Auge. An den analogen Schaltpulten steuern die Mitarbeiter noch heute den Reaktor, daneben checken sie an Computerbildschirmen digitalisierte Informationen über den Betriebsablauf in Echtzeit ab. Im Maschinenhaus produzieren Turbinen mit der Aufschrift «Brown Boveri» zuverlässig Strom (oben im Bild). Die Firma ist längst in der ABB aufgegangen und ihr Name verschwunden. Es ist eine Herausforderung, im AKW mehrere Technikgenerationen zu vereinen und fit zu halten.

Die BKW muss sich den Betrieb ihres Werks zudem immer neu legitimieren lassen. Anders als das vorher eröffnete AKW Beznau I erhält Mühleberg keine unbefristete, sondern eine jeweils befristete Betriebsbewilligung für ein paar Jahre. Anfang 1970er-Jahre seien bei US-AKWs derselben Bauart «technische Probleme aufgetreten, die langjährige Untersuchungen nötig machten», begründet das Bundesamt für Energie rückblickend die Teilzeitbewilligungen. 40 Jahre lang wird die BKW – gegen den Widerstand der Gegner – für die unbefristete Bewilligung kämpfen.

40 Jahre lang wird die BKW für eine unbefristete Bewiligung kämpfen.

44 Jahre Treue

1972 stösst der junge Maschinenschlosser Max Wittwer zur AKW-Crew. Er erinnert sich an den Stolz und den «Pioniergeist», den er gespürt habe:



Er blättert in einem Ordner mit all den Belegen. der Aus- und Weiterbildungen, die er durchlaufen hat: als Anlagen-Operateur, Materialprüfer, als Spezialist für Unterhalt oder Arbeitsschutz. Derzeit ist er Fachspezialist für Checklisten und Meldesysteme, lange war er Mitglied der Betriebsfeuerwehr. Wittwer hat die stetige Anpassung an neue Herausforderungen am eigenen Leib erlebt. Bis heute hält der 65-Jährige dem AKW Mühleberg die Treue.

Aufbruch im Atomdörfli

Pioniere sind die AKW-Angestellten auch im Bauerndorf Mühleberg. Wittwer erzählt, dass er 1972 verpflichtet wurde, in neu erbauten BKW-Miethäusern am Rand des Dorfes zu wohnen, um in Notfall schnell genug im Werk zu sein. Auch Betriebsgruppenleiter Guido Flury zieht in die Siedlung an der Steinrieselstrasse ein. Wie eine Insel aus Beton liegt sie im Grünen. Alteingesessene Mühleberger nennen sie noch heute «das Atomdörfli».

Es ist eine für Mühleberg ungewohnte Welt im Aufbruch. Hier wohnen Städter, gut ausgebildete Techniker, Deutsche gar. Gab das Probleme?



Die rund 100 Menschen im Atomdörfli sind eine neue Kraft, die gute Steuern zahlt, der Schule neue Kinder beschert – und das Dorf auf Trab hält. 1976 formiert sich in der Gemeinde und im Atomdörfli die Vereinigung «Junges Mühleberg», die sich als Partei der Mitte in die Dorfpolitik einmischt und später in der FDP aufgeht. Guido Flury wird in die Schulkommission und 1992 in den Gemeinderat gewählt. Als Bildungsvorsteher bringt er den grosszügigen Schulhausbau in Allenlüften auf den Weg, der aus den jährlich rund 1,5 Millionen Franken finanziert wird, die Mühleberg als AKW-Standortgemeinde zufliessen.

Zorn auf AKW-Projekt Graben

Am 3. April 1973 feiert die BKW den Anschluss an die Moderne. An der AKW-Eröffnungsfeier im «Bären» Laupen intoniert die Musikgesellschaft Mühleberg vor 271 geladenen Gästen den BKW-Marsch. BKW-Direktionspräsident Dreier schlägt in seiner Ansprache überraschend skeptische Töne an. Er orakelt, dass der Bau des AKW «durch die veränderte politische Lage wohl schon nicht mehr möglich wäre».

Das strahlende Image der Fortschrittskraft aus den Atomkernen verblasst auf einmal. Ab 1973 passiert ein epochales Umdenken. In einem Teil der Gesellschaft erwachen Wachstumsskepsis und die Sorge um die Umwelt. Und auf dem Gelände für das geplante AKW in Kaiseraugst bei Basel wird 1975 die Schweizer Anti-Atombewegung lanciert. Die über 100 Meter hohen Kühltürme der geplanten AKWs sind bald Zielscheiben des Volkszorns.

Proteste ...

... gegen das AKW Graben.

Das Grabenfest im August 1977.

Die Berner Bewegung gegen die Atomkraft macht erst einen Bogen um das schon laufende Werk in Mühleberg. Der Widerstand entzündet sich – nach dem Vorbild des Protests in Kaiseraugst – an einem geplanten Werk. Beim kleinen Oberaargauer Dorf Graben, zwischen Aarwangen und Wangen an der Aare gelegen, will die BKW ein AKW mit mindestens einem mächtigen Kühlturm und der vierfachen Leistung des Werks von Mühleberg hinstellen. 1970 reicht sie beim Bund das Standortgesuch ein.

Wie in Kaiseraugst formiert sich eine Allianz aus regionalem Widerstand, linken Gruppierungen und Naturschützern. Petitionen werden eingereicht, Protestzüge organisiert. Am Graben-Fest Ende August 1977 versammeln sich trotz strömendem Regen rund 6000 Leute im Festzelt neben dem von der BKW abgesperrten Baugelände.

André Massons Messnetz

Ende der 1970er Jahre kommt auch das AKW Mühleberg in Berührung mit der Atomkritik. Im Februar 1979 habe er begonnen, rund um das AKW und an dessen Zaun mit einem mobilen Geigerzähler die Radioaktivität zu messen, erzählt der heute 70-jährige Physiker André Masson aus Langenthal:



Damals habe zwar die Kommission des Bundes zur Überwachung der Radioaktivität Messungen durchgeführt, deren Resultate aber nicht publiziert. Heute sind solche Daten auf Messnetzen des Bundesamts für Gesundheit online abrufbar. Die Frage, was ihn zu Messung auf eigene Faust legitimiert habe, stört Masson. «Wer will, soll messen und nachprüfen können, was Behörden und Branche verschweigen», erwidert er. Masson stellt Anfang 1980er-Jahre fest, dass das Maschinenhaus des AKW Mühleberg eine Strahlung aussendet, die der natürlichen Dosis in den Alpen entspricht. Gesundheitsschädigend ist das kaum, die lokalen Grenzwerte erlauben eine solche Strahlung aber nicht.  Masson fordert die Behörden auf, seiner Entdeckung nachzugehen.



Auf dem Tisch breitet er vorsintflutliche Elektrogeräte aus dem analogen Zeitalter aus, die sonst in seinem Keller lagern: einen handlichen Geigerzähler, einen Uralt-Elektrorechner der Marke Sharp, der auf Papierstreifen Daten ausdrucken konnte.

«Wer will, soll messen und nachprüfen können, was Behörden und Branche verschweigen»

Lehren aus Three Mile Island



Am 28. März 1979 gerät im AKW Three Mile Island beim US-Städtchen Harrisburg nach einer Ventilpanne ein Reaktor gefährlich ausser Kontrolle. Weil die Brennelemente nicht mehr mit Wasser bedeckt sind, passiert eine Kernschmelze, die den Reaktor partiell zerstört. Strahlung tritt aus dem Werk aus, wie viel bleibt umstritten. Die schwere Panne wird auf der Ines-Schadensskala von 0 bis 7 wie jene in Lucens VD als «ernster Unfall» der Stufe 5 gewertet.

Für das AKW Mühleberg hat der Unfall langwierige Folgen. Guido Flury erinnert sich, dass man Three Mile Island nachempfundene Notszenarien durchspielt. Im Dezember 1980 erhält die BKW von der Atomaufsicht des Bundes die Auflage, das AKW Mühleberg nachzurüsten mit einem «speziellen unabhängigen System zur Abführung der Nachzerfallswärme». Seine liebevolle Abkürzung: Susan (siehe unten im Bild, links neben dem runden Reaktorgebäude). Sieben Jahre wird die BKW daran bauen und dafür 100 Millionen Franken ausgeben. Susan ist ein ausserhalb des Reaktors gelegenes, gebunkertes Notsystem. Es soll den Reaktor kühlen, wenn dessen eigene Notsysteme wie in Three Mile Island streiken würden.



1980 entdeckt man bei der alljährlichen Revision Risse in den Rohren der Umwälzschleifen, in denen auch Kühlwasser zirkuliert. Ein Leck könnte die Kühlung beeinträchtigen. 1985 werden die Risse zugeschweisst, 1986 dann die verstrahlten Umwälzschleifen für 35 Millionen Franken ersetzt. Für die AKW-Betreiber sind die Nachrüstungen der Beweis, dass sich die Sicherheit der Anlage stetig verbessert. Die Kritiker aber sehen sie als Beleg, dass die Atomtechnik einem uneinholbaren Rückstand hinterherrennt und nie sicher genug ist

Atombranche atmet auf

In den 1980er-Jahren erlahmt die junge Anti-Atombewegung nach ihrem erregten Aufbruch erstmals. Gemässigte Atomkritiker wenden sich von den Radikalen ab, die 1979 den Informationspavillon für das AKW Kaiseraugst sprengen. In Graben wird ein Meteo-Mast der BKW flachgelegt. Von wem, wird nie geklärt.

Das neue Atomgesetz von 1979 gewährt erste Mitsprachemöglichkeiten und schreibt die Zustimmung des Parlaments für neue AKW fest. Das erlaubt der jungen Linkspartei Poch, 1983 mit 5524 gültigen Unterschriften im Kanton Bern das Referendum gegen die Erweiterung des Atommüll-Zwischenlagers auf dem Areal des AKW Mühleberg zu ergreifen. Im Abstimmungskampf wirbt die Poch mit Flyern auf grauem Umweltschutzpapier. Einer hat sogar ins Berner Staatsarchiv Eingang gefunden (siehe Bild).

Am 4. Dezember 1983 stimmt die Berner Bevölkerung der Erweiterung des Zwischenlagers mit 136'000 Ja gegen 94'000 Nein solid zu. Ähnlich atomfreundlich votieren 1984 die Schweizerinnen und Schweizer, als sie mit 55 Prozent Nein-Stimmen eine Initiative ablehnen, die den AKW-Bau in Kaiseraugst wie auch den Ersatz bestehender AKW verbieten will. Die Atombranche wähnt sich wieder im Aufwind.

Da explodiert am 26. April 1986 ein Reaktor in Tschernobyl. Ungehindert schleudert er verstrahltes Material in den Himmel der Ukraine. Es ist der erste Super-Gau der obersten Gefahrenstufe 7 auf der Ines-Skala. Während die überforderten Sowjetbehörden tagelang schweigen, verbreiten Winde über Europa eine radioaktive Wolke. Sie legt sich wie ein Schatten über die Zukunft der Atomkraft.

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