Über das sanft gewellte Ackerland sind locker ein paar Bauernhöfe verteilt. Ab und zu kreisen Raubvögel. In der idyllischen Landgemeinde Mühleberg, bloss 15 Kilometer von der Stadt Bern entfernt, kann man glatt vergessen, dass man sich am Standort eines Atomkraftwerks befindet. Die Anlage, die Alteingesessene liebevoll «Atomi» nennen, bleibt selbst vom Mühleberger Kirchhügel aus unsichtbar.

«Weil das Werk im Graben unten an der Aare versteckt ist, hat man es nicht dauernd im Sinn», sagt René Maire, Gemeindepräsident von der SVP, im Gemeindehaus. Über das Atom-Image seiner Gemeinde hat er eine klare Meinung:

Segen oder Sündenfall?

In Mühleberg kann man sich vorkommen wie im windstillen Auge des Sturms. Der Sturm erhebt sich wenige Jahre nach der Inbetriebnahme des AKW. Auf breiter Front erwächst der Atomenergie plötzlich empörter Widerstand. Über kaum ein Thema wird seither in Öffentlichkeit und Politik so unversöhnlich gestritten. Die Gesellschaft ist in diesem Glaubenskrieg in zwei Lager gespalten. Das eine hält die Atomkraft für einen Segen, das andere für einen Sündenfall, eine teuflische Gefahr, von der man die Finger lassen müsse.



Ab 1975 heizen sich die Emotionen gegen die Atomenergie immer wieder auf – und flauen wieder ab. Will man diese wechselhafte Konjunktur verfolgen, dann sind die Versammlungs­lokale der Gemeinde Mühleberg gute Beobachtungsstandorte. Das Berner Energieunternehmen BKW, das das AKW Mühleberg betreibt, hat dort die Einwohner jeweils über seine AKW-Pläne informiert. Im grossen Saal des Dorfgasthofs Traube. Oder in der Aula der Schulanlage Allenlüften, die aus den Sondersteuereinnahmen von rund 1 Million Franken finanziert wurde, die der AKW-Standortgemeinde Mühleberg im Jahr zufliessen.

Die Gesellschaft ist in diesem Glaubenskrieg in zwei Lager gespalten.

Unglaubliche Kehrtwende

Zum Beispiel am 4. Dezember 2008. Was die BKW an diesem Abend den Mühlebergern enthusiastisch verkündet, kann man sich heute schier nicht mehr vorstellen: Dass als Ersatz für das in die Jahre gekommene Werk in Mühleberg ein neues AKW gebaut werden solle. Ein AKW der allerneusten Generation, das viel sicherer und viel effizienter sei und viel weniger Abfall produziere. Die BKW-Leute warnen vor einer drohenden Stromversorgungslücke und rühmen die Umweltfreundlichkeit der AKW, da sie kein CO2 ausstossen. Es sieht gerade sehr gut aus für die Zukunft der Atomkraft.

Arthur Burkhalter (68), pensionierter Chemiker und Autor der Dorfchronik «1000 Jahre Mühleberg», war damals in der Aula dabei und erinnert sich, dass es «kaum Widerstand» gegen ein neues AKW gab:



Mit dem Langzeitblick des Dorfhistorikers erklärt er sich die unaufgeregte Ruhe in der Aula so: «Die Mühleberger sind vielleicht nicht so aufmüpfig, aber anpassungsfähig. Über Jahrhunderte schluckten sie neue Technologien, die in die Gemeinde kamen und wirtschaftliche Vorteile brachten: Mühlen, die Strasse, die Eisenbahn, die Wasserkraft, die Atomkraft.»

Den Stellenwert, den die Phase des AKWS, die 47 Jahre dauerte, in den 1000 Jahren Dorfgeschichte hat, ordnet Burkhalter wie folgt ein:

Verwandelte BKW

Acht Jahre später, wieder in der Aula Allenlüften (im Bild), legt die BKW-Spitze den geduldigen Mühlebergern am vergangenen 4. April dar, wie sie das AKW als erstes der Schweiz ab 2019 stilllegen und abbrechen will. Was für eine atemberaubende Kehrtwende in nur acht Jahren.

Es ist eine verwandelte BKW, die nun erklärt, dass sie nach der Atomkatastrophe von Fukushima und dem Einbruch des Strompreises entscheidet, dass sich die Investitionen in die Atomkraft für sie nicht mehr lohnen. In Allenlüften referieren nicht mehr gesetzte Herren, sondern eine Frau, CEO Suzanne Thoma. Sie vertritt eine Firma, die sich gerade neu aufstellt im nachhaltigen Energiebusiness.

Die Laufzeit des AKW Mühleberg steckt eine Ära ab. Ob seine Stilllegung auch das Ende des Schweizer Atomzeitalters markiert, ist unklar. Schon rückt das 2015 neu gewählte Parlament wieder etwas ab von der Energiewende und zögert den Atomausstieg hinaus. In einigen Ländern der Welt werden AKW der neusten, dritten Generation gebaut.

In Allenlüften referieren nicht mehr gesetzte Herren, sondern CEO Suzanne Thoma.
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