Die Schockwellen des Super-GAUs in Fukushima (im Bild) erschüttern auch das AKW Mühleberg.

Ein Jahr nach Fukushima ist die Empörung am «Menschenstrom gegen Atom», der zum AKW Mühleberg marschiert, immer noch gross.

Die Breaking News über einen Tsunami in Japan tauchen am Morgen des 11. März 2011 kurz vor 8 Uhr auf den Handys der BKW-Konzernleitung auf. Sie ist gerade an einer Verwaltungsratssitzung in der Berner Konzernzentrale am Viktoriaplatz versammelt. Produktionschef Hermann Ineichen stellt das geplante Nachfolge-AKW in Mühleberg vor. Am Ende der Sitzung ist klar: Der Tsunami hat im AKW Fukushima einen Super-GAU aus­gelöst. «Wir haben damals noch nicht genau realisiert, was das für uns bedeutet», erinnert sich BKW-Verwaltungsratspräsident Urs Gasche. Aber die BKW-Spitzen ahnen schon: Die Schockwellen aus Japan werden auch ihren Konzern erschüttern.



Drei Tage später legt das Energiedepartement von Bundesrätin Doris Leuthard die Pläne für neue Schweizer AKW für unbestimmte Zeit auf Eis. «Da war uns klar, dass ein neues AKW Mühleberg vom Tisch ist, wir haben das Projekt gestoppt», sagt Gasche.

Neues AKW war vom Tisch.

Realität überholt Fiktion

In jenen Märztagen sitzt Informatikingenieur Markus Kühni (47) in der Zone 2, zehn Kilometer vom Reaktor Mühleberg entfernt, am Schreibtisch in seinem Haus im Stadtberner Länggassquartier. Der Atomgegner arbeitet an einem apokalyptischen Notfallszenario. Seine Annahme: Das AKW Mühleberg wird nach einem Erdbeben und einem Bruch des Wohlenseestaudamms überflutet. Am 11. März holt die Realität Kühnis Fiktion ein. Was er sich ausmalt – dass im AKW Mühleberg der Strom ausfällt und die Kühlwasserzufuhr verstopft ist –, genau das bewirkt der Tsunami beim AKW Fukushima.

Er sei unter den AKW-Kritikern ein «Late Comer», ein Spätzünder, sagt Kühni. Das «Aktivistische» liege ihm nicht. Als Freelancer dient er bisweilen der Gruppe Fokus Anti-Atom oder Greenpeace zu. Er überprüfe publizierte Sicherheitsdokumente zum AKW Mühleberg, vergleiche sie untereinander und mit Gesetzesvorschriften und ziehe daraus logische Schluss­folgerungen, erklärt Kühni seine Methode.



Es ist ihm immerhin eine Genugtuung, dass die ETH einige Wochen später in einer Hochwasserstudie Kühnis Befürchtungen bestätigt.

Lehren für AKW Mühleberg



Der heutige AKW-Leiter und damalige Stellvertreter Martin Saxer (50, oben im Bild) ist auf der Heimfahrt von einem Skitag in Zermatt, als ihn ein Anruf aus Mühleberg über den Unfall in Fukushima ins Bild setzt. «Da wird etwas abgehen», sei sein erster Gedanke gewesen, erzählt er. In den nächsten Tagen gründen sie im AKW Mühleberg einen «Ereignisstab» und räumen für ihn ein Büro. «An der Wand hängten wir Pläne, Berichte, Informationen der Atomenergiebehörde IAEA über Fukushima auf», berichtet Saxer.

Die rund achtzig Leute, die schon für die Planung des Nachfolge-AKW angestellt worden sind, werden nun für die Analyse des Fukushima-GAUs eingesetzt. Das AKW Mühleberg ist vom Typ und von der Bauart her mit dem in Fukushima verwandt. Fragen hätten sich deshalb aufgedrängt, sagt Saxer: «Was bedeutet das für unser AKW? Wären wir gegen neue Gefahren wie verstopfte Zuleitungen bei Hochwasser gefeit? Hat unsere Wasserzufuhr, auch wenn sie die Vorschriften erfüllt, genug Sicherheitsmarge?»

Gleich in vier Reaktoren fällt in Fukushima nach der Überflutung des AKW durch den Tsunami der Strom aus, das Kühlwasser versiegt, sodass sich eine Kernschmelze ereignet. Explosionen zerstören zwei Reaktoren. Die Katastrophe erhält auf der Ines-Nuklearschadenskala wie Tschernobyl den Maximalwert 7. Die AKW-Leitung in Mühleberg realisiert, dass die Sicherheitssysteme und die Notfallplanung des AKW im Hightechland Japan ungenügend sind.

Ereignisse wie im Zeitraffer

Aus der Rückschau wirken die Monate nach Fukushima, als hätte jemand einen Film im Zeitraffer abgespielt. Die Ereignisse in der Schweiz und rund ums AKW Mühleberg überschlagen sich.

Am 21. März fordern Anwalt Rainer Weibel und Mühleberg-Anwohner der Zone 1 mit einer neuen Eingabe an das Energiedepartement, dem AKW Mühleberg aufgrund der Erkenntnisse aus Fukushima die Betriebsbewilligung zu entziehen und es sofort stillzulegen. Am 22. März versammeln sich mehrere Hundert Leute, unter ihnen ganz junge, vor dem BKW-Hauptsitz am Viktoriaplatz zu einem Protestpicknick. Sie richten sich auf der kleinen Grünanlage während Wochen in einem Protestcamp ein (unten im Bild). Es ist der Geburtsort einer neuen, ganz jungen Anti-AKW-Bewegung. Das Camp wird erst nach drei Monaten durch einen Polizeieinsatz geräumt.



Ende März verlangt die Atomaufsicht Ensi von allen Schweizer AKW-Betreibern eine neue Störfallvorsorge gegen Erdbeben und Überflutung. Atomgegner wie Markus Kühni werfen dem Ensi vor, dass es die Nachrüstung im AKW Mühleberg – im Vergleich zu derjenigen in Fukushima – besser mache, als sie in Wahrheit sei. Am 25. Mai kündigt Energieministerin Doris Leuthard den Atomausstieg der Schweiz an. Nicht zuletzt unter dem Einfluss Deutschlands, dessen Kanzlerin Angela Merkel das Atomaus schon vorher lanciert hat.



Dem Onlinearchiv «AKW Ade!» der Berner Protestbewegung am Viktoriaplatz kann man entnehmen, dass in den Monaten nach Fukushima in einem hektischen Staccato so viel atomkritische Berichte eingingen wie vorher in zwanzig Jahren. Am 29. Juni kündigt die BKW überraschend Nachrüstungen bei Kühlwasserzufuhr und Hochwasserschutz an. Fünf Wochen vor dem Beginn der regulären Jahresrevision stellt sie das AKW ab. Einige Atomgegner triumphieren. Sie glauben, dass das Werk am Ende ist.

In dieser heissen Phase nach Fukushima driften die Ansichten im Glaubenskrieg um die Atomkraft mehr denn je auseinander. Im Frühjahr 2011 zeigen sich exemplarisch die Mechanismen der unversöhnlichen Debatte.

Neue, ganz junge Anti-AKW-Bewegung.

Bewirtschaft die Empörung

Die Atomgegner bewirtschaften unverzüglich die breit aufwallende Empörung. Denn sie wissen, dass die Halbwertszeit des Volkszorns begrenzt ist. Nach Tschernobyl wurde 1986 die erste Atomausstiegsinitiative lanciert. Bis sie 1990 an die Urne kam, war die Empörung aber abgeflaut, und das Begehren scheiterte. Einige AKW-Gegner und atomkritische Medienartikel, etwa in der «Wochenzeitung» oder im «Beobachter», listen grössere Störungen im AKW Mühleberg zusammen mit zahllosen irrelevanten Kleinpannen so auf, dass in der Summe der Eindruck des «Schrottreaktors» entstehen soll.

Atomgegner ohne genaueres technisches Know-how stellen an die Atomkraft bisweilen radikale Sicherheitsanforderungen wie an keine andere Technik. Ohne Rücksicht auf die Kosten. Weil die Atomkraft in ihren Augen die gefährlichste Technologie der Welt ist, muss sie absolut sicher sein. Dieselbe kompromisslose Haltung zeigt sich auch in der blockierten Debatte um die Entsorgung des radioaktiven Mülls. Statt an der Planung eines Endlagers mitzuwirken, hintertreiben die Atomgegner das Projekt.

Die Macht des Schweigens

Die Methoden der Atombranche stehen jenen der Gegner in nichts nach. Und die finanzielle und politische Macht der AKW- Betreiber ist ungleich grösser. Sie treten mit einem unnahbaren Expertenhabitus auf und verteidigen ihre Verschwiegenheit mit dem Verweis auf Geheimhaltungspflichten. Diese ersparen ihnen, bei technischen Mängeln der AKW und bei Rentabilitätsberechnungen der Atomkraft Transparenz zu schaffen.



Auch von Hans Wanner, dem Direktor des Ensi (oben im Bild der Sitz in Brugg) erhält man derzeit keine Auskunft. Vor der an­stehenden Abstimmung über die grüne Atomausstiegsinitiative am 27. November steht er generell für keine Interviews zur Verfügung.

Die Atomdebatte ist ein Patt. Die Gegner kämpfen gegen das Schweigen der Branche. Während die einen in diesem Schattenboxkampf dramatisieren, verharmlosen die anderen. Beide Lager dämonisieren sich gegenseitig. Für Laien, die sich für die Abstimmung vom 27. November unvoreingenommen informieren wollen, ist das nicht hilfreich.

Martin Saxers Zuversicht



Wer das AKW Mühleberg besucht, kommt sich nicht wie in einem «Schrottreaktor» vor. Auf einer Führung durch das hoch ­gesicherte Innere des Reaktorgebäudes fallen die Sauberkeit und Ordnung sowie die permanente Wartung auf. Natürlich kann ein Laie mit seinem Aussenblick nicht einschätzen, ob Atomgegner Jürg Joss recht hat mit seinem Vorwurf, die Sicherheitstechnik habe sich zwar in neueren Atomkraftwerken wie Gösgen und Leibstadt weiter­entwickelt, nicht aber in Mühleberg. Joss kritisiert auch, dass die Grundanlage des Reaktors in Mühleberg eng und unflexibel sei. Seine Notsysteme seien deshalb nicht voneinander abgetrennt und unabhängig.



Hat Joss recht, Herr Saxer? Ja, die Verhältnisse seien eng und die Systeme nah beieinander, räumt der Leiter des AKW Mühleberg ein. Aber das bedeute nicht, dass die Sicherheit dort nicht bereits hoch sei, sie lasse sich auch weiter verbessern. Sicherheit sei ohnehin nicht nur eine Frage der Anlagenkonzeption, sondern auch der Wartung oder der Erfahrung der Crew. Saxer spricht jetzt von der Core Damage Frequency – von der Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis mit einem Kernschaden. Der Wert für das AKW Mühleberg liege deutlich unter der vom Gesetz geforderten Schwelle. Atomgegner wie Jürg Joss halten die Reserve im AKW Mühleberg für unverantwortlich knapp.

«Wenn die Anlage 2019 abgestellt wird, wird sie so sicher sein wie nie zuvor», sagt Saxer. Gilt das auch für den Kernmantel mit den wachsenden Rissen, dessen Ersatz Millionen Franken kosten würde und deshalb von der BKW wohl lieber vermieden wird? Der Kernmantel sei das bestkontrollierte Teil der Anlage, beruhigt Saxer. Er lege «die Hand ins Feuer», dass er bis zur Abschaltung 2019 intakt bleibe.

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