Der Sisyphus von Bätterkinden

Nach einer Verstrahlung in einem AKW wandelte er sich 1986 zum Atomgegner. Seither kämpft der beschlagene Techniker für die Stilllegung des AKW Mühleberg, das er in seiner Kampfrhetorik einen «Schrottreaktor» nennt.

Seinen Weckruf erlebte Jürg Joss (53) im Tschernobyl-Jahr. Der Elektriker und Automationstechniker erzählt in seinem Haus in Bätterkinden, er sei 1986 während der Revision des AKWs Leibstadt leicht verstrahlt worden. Erst nach längerem Duschen habe er das Werk verlassen können. «Da habe ich mir Sorgen um mein körperliches Wohl gemacht», erinnert sich Joss. Er holt sein abgegriffenes gelbes «Kontrollbüchlein für beruflich strahlenexponierte Personen hervor». Der letzte Strahlendosis-Eintrag datiert von 1987. Zwei Jahre später tritt der zum Atomgegner mutierte Joss dem 1986 gegründeten Verein «Aktion Mühleberg stilllegen» bei.



Hat er wirklich Angst vor dem AKW? Am Küchentisch stellt sich Joss vor, dass Bätterkinden überstürzt evakuiert würde wie einst Tschernobyl: «Bei einem Gau in Mühleberg wäre mein Dorf gerade noch weit genug weg, um vielleicht abhauen zu können. Allerdings nur bei Bisenlage.» 60 Prozent der Windlagen seien aber Westwindlagen, die die radioaktive Wolke nach Bätterkinden treiben würden. «Auch wenn ich wegkäme, was wäre dann mit meiner Tochter, die in Bern arbeitet?», fährt Joss fort. Und stellt weitere Fragen: «Was nehme ich mit? Kann ich mein Haus je wieder betreten? Und nach Bätterkinden zurückkehren, wo ich Gemeinderat bin?»

Solche Fragen warf vier Jahre nach Tschernobyl auch das Szenario «Grosskatastrophe im Kleinstaat» auf. Die Autoren Hans-Peter und Rudolf Meier extrapolierten darin mit apokalyptischen Zeitangaben die Folgen einer Mühleberger Reaktorkatastrophe für den Kanton Bern: Bei Westwind würde eine radioaktive Wolke innerhalb von zwei Stunden Burgdorf, in sechs Stunden Zürich erreichen. Je nach Windlage müsste laut den Autoren die halbe Deutschschweiz geräumt werden.



Joss’ Fragen beantwortet auch das Merkblatt nicht, das in diesem Februar an alle Haushalte in der Zone 1 im engsten Umkreis des AKW Mühleberg ging. Solange keine Radioaktivität austrete, solle man bei einem Alarm mit dem Auto wegfahren oder sich an Sammelstellen für das Postauto einfinden, steht da. Und auch, was man mitnehmen solle: Ausweis, Bargeld, Handy, Verpflegung, Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüsen. Ist eine Wegfahrt unmöglich, soll man im Haus ausharren.

Der «Schrottreaktor»

«Ich bin Techniker und weiss genug über den Sicherheitsstandard im AKW Mühleberg, um mir Sorgen zu machen», sagt Joss. Seine Hauptkritik: Das AKW Mühleberg sei «ein Altreaktor», dessen Grundkonzeption sich auch mit permanenten Nachrüstungen nicht auf den Sicherheitsstandard der jüngeren Schweizer AKWs in Gösgen und Leibstadt bringen lasse.

Joss verwendet den abschätzigen Begriff «Schrottreaktor», der nach Tschernobyl zu einem Codewort der scharfen Greenpeace-Rhetorik wurde. «Schrottreaktor? In Mühleberg gab es weniger Pannen als im jüngeren Werk in Leibstadt», erwidert der frühere Mühleberger AKW-Betriebsgruppenleiter Guido Flury. Und für Hans Rudolf Lutz, den ersten Mühleberger AKW-Leiter, ist klar: «Schrottreaktor ist ein politischer Kampfbegriff, der die Stimmung anheizen soll. Der realen, bis heute gewährleistete Sicherheit des AKWs Mühleberg wurde er nie gerecht.»



Dem seriösen Jürg Joss geht das Wort eher zögerlich über die Lippen. Ja, räumt er ein, «Schrottreaktor» sei auch ein Kampfbegriff. Er verteidigt ihn dennoch. «Die AKW-Betreiber können auf Geheimhaltungspflichten pochen und davon ausgehen, dass Laien nicht genau verstehen, was in einem AKW abläuft. Wir Atomgegner aber müssen das kurz und anschaulich auf den Punkt bringen.»

Kampfrhetorik der Atomgegner

Jürg Joss’ langer Atem

Joss neigt zu Exkursen in technische Details, bei denen ein Laie ratlos auf der Strecke bleibt. Aber er gehört zu den beschlagenen Atomkritikern. Auch die BKW hat Respekt vor ihm. «Joss ist kein Ideologe, er versteht zum Beispiel etwas von der Notkühlung. Mit ihm kann man reden», sagt Guido Flury. Viele Atomkritiker haben in Flurys Augen allerdings einen «Lupenblick» auf Details, ihnen fehle bisweilen ein Gesamtüberblick. Der wachsende Widerstand nach Fukushima habe verhindert, dass neuere, sicherere AKWs geplant werden konnten, findet Flury.

BKW-Vertreter, die mit Joss auf Podien die Klingen gekreuzt haben, hielten ihm entgegen, er habe einen «allzu statischen Sicherheitsbegriff». Unabhängig vom Alter gewisser Anlageteile, lasse sich das AKW Mühleberg auch heute noch sicherer machen. Joss bleibt bei seiner Ansicht, dass das AKW die Grenze der Nachrüstung erreicht hat.
Er hat einen langen Atem. Unermüdlich studiert er schwer lesbare AKW-Sicherheitsberichte. Auch dann noch, wenn kein Atomunfall den Anti-AKW-Widerstand angefacht hat. Nach der Auflösung des Vereins «Aktion Mühleberg stillegen» 1989 hilft Joss, die kleinere Organisation «Fokus Anti-Atom» zu gründen. Sie führt den Mühleberg-Wider-stand mit anderen Mitteln weiter, insbesondere im Internet.

«Erst nannte man uns Ökoterroristen und Sektierer, dann haben wir uns mit technischem Know how Glaubwürdigkeit erarbeitet, heute sind wir eine gesellschaftspolitische Kraft», sagt der Sisyphus von Bätterkinden über seinen langen Weg.

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