Die Geburt der Schweizer Anti-Atom-Bewegung in Kaiseraugst

Autofreier Sonntag: Die Energiekrise von 1973 legt den Schweizer Verkehr lahm.

Die Entdeckung der Umwelt

Es ist kein April-Scherz, als ein paar hundert Leute am 1. April 1975 auf dem Bauplatz in Kaiseraugst mit dem Aufbau einer Zeltstadt beginnen. Die Besetzer bleiben für volle 11 Wochen auf dem Gelände vor den Toren Basels, wo der Energiekonzern Motor Columbus ein Atomkraftwerk bauen will. Die Protestaktion löst landesweites Echo aus. Sie ist eine Initialzündung für die Schweizer Anti-AKW-Bewegung. Ihr Feuer brennt bis heute.

Der Fortschrittssturm der Moderne stösst ab den frühen 1970er-Jahren auf Gegenwehr. 1972 publiziert der Thinktank «Club of Rome» mit seinen legendären Bericht «Grenzen des Wachstums» ein Gegenprogramm. Der Erdöl-Lieferstopp arabischer Länder von 1973 bremst den Energieverbrauch in den Industriestaaten plötzlich aus. In den 1970er-Jahren erlebt die Umweltschutzbewegung ihren Aufstieg. Sie setzt die Rettung des Planeten als Topthema auf die politische Agenda.

Dass die vorher einhellig begrüsste Atomkraft auf Skepsis stösst, ist auch die Folge eines Bundesratsentscheids. Im März 1970 verbietet die Landesregierung , dass neue AKWs nur mit Flusswasser gekühlt werden – wie noch die im Bau befindlichen AKWs in Beznau und Mühleberg. Aus Gründen des Naturschutzes soll so die Erwärmung der Fliessgewässer begrenzt werden. Die geplanten AKWs in Kaiseraugst AG, Gösgen SO (im Bild) und Leibstadt AG müssen nun unübersehbare, 100 Meter hohe Kühltürme einplanen.

Für einen wachsenden Teil der Gesellschaft bekommen die unsichtbare Radioaktivität und die unvorstellbar lange strahlenden Atomabfälle etwas Bedrohliches. Die Atomkraft gilt für ihre Kritiker nun als nicht beherrschbare Technologie und als Risiko für Gesundheit und Natur. Patrick Kupper, heute Geschichtsprofessor an der Universität Innsbruck, fasst in seinem Buch «Atomenergie und gespaltene Gesellschaft» den Paradigmenwechsel so zusammen: War die Atomenergie vorher eine rein technische und wissenschaftliche Frage, wird sie nun zum Gegenstand einer gesellschaftlichen und politischen Debatte.

Instabile Anti-AKW-Allianz

1973 gründen Basler Jungsozialisten die Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst GAK. Der Kampf der Aktivisten auf dem Baugelände findet Anklang bei besorgten Anwohnern, gemässigten linken Kreisen und Naturschützern. Auf dem Höhepunkt der Anti-Kaiseraugst-Erregung umfasst die zerbrechliche Anti-AKW-Allianz bis zu 40 Prozent der Schweizer Stimmbürger. Für Urs Hochstrasser (90), früherer Atomdelegierter des Bundesrates, ist klar, dass warum die politische Linke die Atomkraft angreift:



Laut Historiker Kupper profitiert die neue Protestbewegung davon, dass sie von der Atombranche zuerst unterschätzt wird. Die Energiekonzerne wischen den Protest als temporäre Verstimmung vom Tisch. Viel zu spät gibt die Motor Columbus 1977 mit einem Informationspavillon auf dem Baugelände in Kaiseraugst Gegensteuer. Die Meinungen sind da in der Region längst gemacht.

Eine neutrale Haltung zur Atomkraft gibt es seit den 1970er-Jahren praktisch nicht mehr. Man ist vom Nutzen der Atomkraft überzeugt – oder von ihrer Gefahr. Die in Fronten erstarrte Debatte blockiert bis heute den Bau eines unterirdischen Lagers für Atommüll.

Eine neutrale Haltung gibt es seit den 1970er-Jahren nicht mehr.

Streit um ein Wort

Die Spaltung der Gesellschaft in der Atomfrage bildet sich auch in einer Sprachregelung ab. 1971 empfiehlt ein Vorstandsmitglied der AKW Kaiseraugst-AG anstelle von «Atomkraftwerk» den Begriff «Kernkraftwerk» zu verwenden. Die Nuklearbranche vermeidet nun die angstbesetzte Vokabel «Atom», da sie an die Atombombe und Atomraketen erinnere.

Für die Gegner ist der neue Begriff eine Beschönigung und Verharmlosung. Die Koexistenz der beiden Wörter macht den Graben im Glaubenskrieg nur noch sichtbarer.

Vom «Atomkraftwerk» zum «Kernkraftwerk»

Hist. Bilder: Staatsarchiv Bern/BKW/Key/Robert Grogg
Fotos: Beat Mathys/BZ Archiv
Text: Stefan von Bergen
Videos: Stefan von Bergen
Umsetzung: Claudia Salzmann

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