16 Jahre Schweiz sind genug

Ndiouga Seck tauchte in Bern als Sans-Papier unter, heiratete eine Schweizerin und hat heute den roten Pass.

Trotzdem ist er in sein Heimatland Senegal zurückgekehrt.

November 2018. Ndiouga Seck schliesst die Tür des Schiffscontainers und grinst. Geschafft. Bis auf drei bordeauxrote Samtstühle ist alles verpackt. Bereit für die Abfahrt nach Senegal. Es ist keine normale Reise, sondern eine Heimreise. Nach 16 Jahren in der Schweiz kehrt Ndiouga Seck in sein Heimatland zurück. «Hier ist alles geformt, dort kann ich mehr mitgestalten», sagt der 40-Jährige. Er will ein Restaurant eröffnen. Inschallah, sagt er. So Gott will.

2003 flog er in die Schweiz. Nach Ablauf des ersten Touristenvisums kehrte er nach Dakar zurück. Nach dem Hitzesommer 2003 war er wieder in Bern und tauchte als Sans-Papiers ab. «Es war schwierig, und ich war unruhig», sagt er. Sicher habe er sich nur gefühlt, wenn er die Tür zur Wohnung hinter sich zugezogen hatte. Dann verliebte er sich in eine Bernerin. Im Nord-Süd in der Aarbergergasse sprach er sie an. «Jedes Mal, wenn er verspätet war, hatte ich Angst, dass die Polizei ihn geschnappt hat», sagte sie. So heirateten sie. Nach Jahren im Berner Holligenquartier in einer winzigen Wohnung zogen sie nach Zürich. «Ich hatte Glück, wir waren richtig verliebt», sagt Seck heute. Nicht alle seiner Kollegen führten echte Beziehungen. Auch bei Secks läuteten Beamte, um zu kontrollieren, ob ihre Sachen denn auch in der Wohnung sind. «Ich habe ihnen Schränke geöffnet und alles gezeigt. Sie haben uns geglaubt», sagt Seck.

November 2019. Dakar, Senegal. Die bordeauxroten Samtstühle stehen nun hinten im Gang. Aufeinandergestapelt und mit dicker Sandstaubschicht. Sein Restaurant musste er nach sechs Monaten wieder schliessen. Die Leute kamen eher wegen der Bar und der Musik. Zudem verlangte der Vermieter zusätzlich zur Miete eine Umsatzbeteiligung. «Ça va. Aber ich fühle mich wie ein Tourist», erzählt er in seinem Wohnzimmer. Er vermisst die Schweiz, sauber, organisiert und aufgeräumt sei es dort. Die Schweiz vermisst auch ihn, sagen ihm seine Freunde per Whatsapp. Gerade heute wird er zu Glühwein in Bern eingeladen. Absurde Vorstellung bei 28 Grad. Senegalesischer Winter. Der Wind streicht durch die offene Balkontür, bewegt Vorhänge und den YB-Schal. Ndiouga Seck nimmt den Besen und wischt Staub zusammen. Wüstenstaub, den es durchs Fenster weht. Dann setzt er sich und dreht einen Joint.

Ndiouga Seck hat elf Geschwister. Vier von ihnen leben in Bern, alle haben Familien gegründet und damit Wurzeln geschlagen. Sie arbeiten in der Migros, im Inselspital, in der Gastrobranche, in Buchläden. Sie arbeiten viel. Eigentlich arbeiteten sie immer, sagt Ndiouga Seck. Der 79-jährigen Mutter schicken sie Geld. Er selbst arbeitete in der Metzgerei Meinen, in unzähligen Restaurants und zuletzt am Paradeplatz in einer Bankkantine. Eine Festanstellung fand er nie, sondern arbeitete im Stundenlohn, lebte am Existenzminimum. Manchmal bekam er auf dem Weg zur Arbeit einen Anruf, es brauche ihn heute nicht. Oder es regnete, er müsse nicht kommen. Also ging er wieder heim, obwohl er das Geld gut für die Miete hätte gebrauchen können. Oder für Rechnungen. Oder für Mutters Medikamente. Seine Finanzen bekam er nur mithilfe seiner Frau in den Griff. Dann kam nach zehn Jahren die Scheidung. Er wollte Kinder, sie zuerst das Doktorat. «Ich möchte noch immer Kinder», sagt er. Bekommt er nur eines, hätte seine Mutter 30 Grosskinder. Inschallah.

Alle paar Minuten läutet sein Smartphone, Freunde wollen ihn besuchen. Er nimmt ab, mischt dann weiter Gras und Tabak. Bei ihm gibt es Platz, fürs Diskutieren, fürs Rauchen. Das schätzen seine Kameraden, die oft bei den Eltern oder mit der Frau wohnen. Das Geld für die Miete verdient Seck mit der Untermiete eines Zimmers, dem Vermieten von Musikboxen und DJ-Einsätzen. «Ça va bien. Ich habe ein schönes Daheim», sagt er. Er stakst zur Tür, die Hosenbeine flattern. Er ist dünn geworden. «Ich interessiere mich mehr für meine Seele als für meinen Körper.» Es ist 15 Uhr, gegessen hat er noch nichts. Der Kühlschrank ist leer. Der nächste Joint ist gedreht.

Ein Kollege trifft ein, der eigentlich in Basel wohnt. Er ist DJ und seit anderthalb Jahren auf Besuch in Dakar. Sie machen gemeinsam Musik, legen eine Schallplatte nach der anderen auf. Nicken still zum Bass. Reggae. Afrobeats. Evergreens, die der DJ bei Ü-30-Partys im Bierhübeli gespielt hat. In der Schweiz hatte Ndiouga Seck wenig Freizeit, viel Arbeit. Nun ist es umgekehrt. Ist sein Glück hier? «Ça va. Ich bin glücklich», sagt er. Und macht eine Denkpause. «Ich bin glücklich.» Hier habe er Freunde und Familie, die zuhören, die Zeit für ihn haben. Und: «Ich höre überall meine Sprache Wolof. Das habe ich vermisst.»

Besuch bei der jüngsten Schwester: Ngoty, 37 Jahre alt, drei Kinder, verheiratet, Coiffeuse mit eigenem Studio in der Wohnung. Es riecht nach Mafe – Reis mit Erdnusssauce und Fleisch. Zubereitet hat sie es auf einer Gasflasche. Dazu gibt es schwachen Nescafé. Nach dem Essen nimmt Ndiouga Seck den Besen, wischt ihr Coiffeurstudio. Er wolle helfen, seine kleine Schwester habe viel zu tun mit den Kindern. In den drei Zimmern liegt Plastikspielzeug, das Sofa ist abgewetzt, die Kleinen lärmen vor Glück. Draussen beginnt der Muezzin das Nachmittagsgebet, als Ngoty die Rastas ihres Bruders zu waschen anfängt. Sonst hat er immer sein Handy in der Hand, jetzt verschwindet es in der Hosentasche. Er schliesst die Augen, geniesst es. «Ich bin froh, ist er wieder da. Bei der Familie. Aber es gibt hier nichts», sagt die Schwester beim Einseifen. Sie bekommt kein Geld, das ihre Geschwister aus Bern senden, denn schliesslich hat sie einen Ehemann.

Ihr Bruder ignoriert ihr Klagen und sinniert: «Wäre ich Präsident, würde ich alle Senegalesen nach Hause holen. Wir wären schon viel weiter.» Während er von Arbeit und Frieden spricht, versucht seine Schwester das Shampoo mit einem dünnen Rinnsal an Wasser rauszuwaschen. Sie wechselt von Französisch auf Wolof und wird lauter, enerviert sich, es geht um Geld. Heute verlangt sie etwas von ihm. Schliesslich hat sie für die langen Rastas viel Shampoo gebraucht. «Ich bekomme von niemandem Geld geschickt. Dabei bräuchte ich ein Studio an der Strasse. So würden mich die Leute sehen», sagt sie. Es klingt verbittert.

Hier in Dakar herrscht Chaos. In einer Millionenstadt, die man schwer verlassen kann. Dazu kommen die Baustellen, die ganze Quartiere lahmlegen. Die Autofahrer überholen auf dem Trottoir. «Überall ist ein Durcheinander, un bordel», sagt Ndiouga und schüttelt den Kopf. Wenn das Trottoir nicht als Parkplatz dient, dann als Marktplatz: Überall Leute, die Nützliches und Unnützes verkaufen. Hätte Seck das Sagen, würde er alle Märkte schliessen. Und Abfalleimer einführen. Ist er ein richtiger Schweizer geworden? Er lacht. Vielleicht sei er das. «Früher oder später komme ich wieder in die Schweiz», sagt er. Ein Kellner verdient im aufstrebenden Senegal ungefähr 120 Franken im Monat. Selbst mit einem niedrigen Stundenlohn würde Seck als Küchenaushilfe in einem Tag genau so viel verdienen. Inschallah.

Visite bei der Mutter. Ndeye Awa Sow sitzt auf dem Sofa, die schmerzenden Beine hochgelagert. Sie, ihre drei Grosskinder, ihr Urenkel und das Kindermädchen sind da. Eine Stunde haben sie auf Ndiouga Seck gewartet. Diese Zeit hat er auf dem Weg bei einem Kollegen vertrödelt, um ein paar Platten zu hören. Nun sitzt er zerknittert auf dem Sofa. Seine Nichte hat gekocht. Schöpft Couscous auf die grosse Platte, platziert Fisch, Süsskartoffeln, Karotten und Tamarindensauce darauf. Obwohl es einen Tisch und genug Stühle gibt, sitzt die Familie im Kreis am Boden.

Auch die Mutter setzt sich hin, drapiert die Beine so, dass es geht. Das Restaurant ihres Sohnes hat sie nie besucht, abends gehe sie nicht aus. Die Rückkehr ihres Sohnes kommentiert sie schnalzend mit der Zunge. «Ich bin froh, ist er wieder da. Aber Arbeit gibt es hier keine.» Ob er sie oft besuchen komme? Nur, wenn er Hunger habe. «Wir telefonieren jeden Tag», sagt er verteidigend. Sie nickt. «Aber ich bin es, die dich anruft.» Beim Abschied will sie, dass er Tee für sie kauft. Ohne zu Murren macht er das, mit seinem letzten Bargeld.

Auf dem Heimweg grüsst er Bekannte, mit denen er in der Schule war. Nicht lange, nach vier Jahren ging er nicht mehr hin. An der Ecke sitzen Nachbarn, die ihn erkennen. «Wie gehts?», fragen sie. «Ça va bien. Et toi?», fragt er zurück. «Wie geht es der Familie? Wie geht es bei der Arbeit? Mit der Musik? Und deiner Mutter?» Die Fragerei ist ähnlich wie Schweizer Floskeln, nur länger. Ein Ritual, das alle zusammen durchspielen. «Legilegi, bis bald», rufen sie einander zu. «Insch­allah», ruft Seck. Viele seien überrascht, dass er wieder in Dakar ist. «Die meisten, die wieder hier auftauchen, wurden ausgeschafft», sagt Ndiouga Seck. Wenn jemand reisen dürfe, den Schweizer Pass besitze und dennoch zurückkehre, würden die Leute das nicht begreifen.

Hier sei sein Ziel, wieder ein Lokal mit Barbetrieb und Bühne aufzumachen, erreichbar. In der Schweiz bleibe es beim Traum. Dass nur wenige verstehen, dass er freiwillig zurückkam, ist ihm egal. Dass einige hinter seinem Rücken sagen, er sei verrückt, auch. «Ich bereue nichts. Je ne regrette rien, rien.» Auch den Zeitpunkt nicht: Er habe Kraft für eine solche Veränderung. «In meiner Heimat Senegal wurde ich geboren, in meiner zweiten Heimat Schweiz wurde ich erwachsen.» Seinen Platz hier in Dakar hingegen müsse er erst wieder finden. Inschallah.

Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds ‹real21 - die Welt verstehen› unterstützt.

Realisiert von Claudia Salzmann

Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds ‹real21 - die Welt verstehen› unterstützt.

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