«Es ist wie beim Hotelbuchen: Ich muss ein freies Bett haben»
Oberst Hans Schori

«Ich freue mich fürs Vaterland Dienst leisten zu dürfen»
Giuseppe Gilles Fabiano

«Mein Ziel ist Militär-Polizeigrenadier zu werden»
Thomas Baumann

Seit vier Monaten hat Giuseppe Gilles Fabiano den Schweizer Pass. Nun sitzt er im Büro von Oberst Hans Schori und erhält Kompliment um Kompliment. «Chapeau! Kaum sind Sie Schweizer, schon erfüllen Sie eine Bürgerpflicht. Sie haben meinen vollen Respekt», sagt Schori und strahlt. Von der Wand blickt ihm General Guisan über die Schulter, vor Guisan die Schweizer Flagge. Es ist wie im perfekten Werbefilm fürs Militär.

Oberst Schori schiebt seine Brille ein Stück weit nach vorne und schaut Fabiano über den Rand direkt in die Augen. So wie immer, wenn es wirklich wichtig wird. «Also, zu Ihrer RS. Sie können im Prinzip wünschen. Es ist wie beim Hotelbuchen: Ich muss einfach ein freies Bett ­haben.»

Das Ritual

Am Tag zuvor, Rekrutierungszentrum Sumiswald. Ein dünner Schneeteppich liegt über der Emmentaler Hügellandschaft. Junge Männer aus dem ganzen Kanton Bern stehen mit Rucksäcken, Handtaschen und Rollkoffern im Entree. Angespannte Mienen, bleiche Gesichter. Am Check-in tauschen sie ihr jungfräuliches Dienstbüchlein gegen ein Trägershirt mit einer dreistelligen Nummer darauf. Diese Nummer wird in den nächsten zwei Tagen ihr Name sein.

Die Rekrutierung ist ein jahrhundertealtes Ritual. Vater Staat ruft seine jungen Männer zu sich und mustert sie zwei Tage lang von Kopf bis Fuss. Es ist eine Talentshow. Jeder Mann mit einem Schweizer Pass muss sich dem Testverfahen stellen. In Sumiswald finden diese Castings Woche für Woche statt. An diesem Dezembertag sind es 109 Männer, die einrücken müssen, die meisten sind erst 19 oder 20 Jahre alt.

Der Oberst

Oberst Hans Schori schreitet zackig durchs Entree, so, als ob sich alle in Zeitlupe bewegen ausser ihm. Lachfalten, ein fester Händedruck. Seit November hat Schori das Sagen in Sumiswald. Im Zentrum hatten einige schon Befürchtungen, dass mit ihm ein richtiger «Militärgrind» das Kommando übernimmt. Schori ist ausgebildeter Grenadier und leitete zuvor drei Jahre lang die Spezialkräfte auf dem Monte Ceneri. Grenadierbataillone, Fallschirmaufklärer, Spezialdetachement AAD 10 – die wirklich sexy Funktionen, wie er selbst sagt.

Die Befürchtungen, dass Schori das Rekrutierungszentrum in ein Bootcamp umwandeln könnte, waren aber umsonst. Sein Enthusiasmus für die Armee ist breit gefächert, er kann jeder Funktion etwas abgewinnen. Und genau diese Einstellung braucht es für seinen neuen Job.

Die Konkurrenz

Früher hatte die Rekrutierung in der Bevölkerung den Ruf einer Initiation – der Staat macht die Jungen zu richtigen Männern. Diese waren entsprechend verunsichert, als ihnen Vater Staat in Form von brüllenden Offizieren zum ersten Mal gegenüberstand. Heute hat sich das Blatt gewendet. Der Respekt vor der Armee hat in den vergangenen Jahren gelitten. Vater Staat hat ein Autoritätsproblem.

Seit die Gewissensprüfung für den Zivildienst abgeschafft wurde, steigen dort Jahr für Jahr die Gesuche. Der neue Armeechef Philippe Rebord schlug bereits Alarm: Wenn das so weitergehe, könne er sein Heer nicht mehr alimentieren. Zwar will derzeit nur einer von vier Stellungspflichtigen lieber in den Zivil- als in den Militärdienst. Aber diese Zahl steigt, vor allem bei den Gutausgebildeten.
Die Armee befindet sich plötzlich in einer völlig neuen Si­tuation: Sie hat Konkurrenz.

Die Gratwanderung

Begrüssung. Schori schwingt sich schwungvoll auf die Bühne. Wer einen rauen Kasernenton erwartete, sieht sich getäuscht. In den nächsten zwei Tagen werde jeder ein «perfektes medizinisches und psychologisches Screening» erhalten. «Eine Dienstleistung der Armee», wie Schori sagt. Bevor die jungen Männer aber überhaupt eine Testfrage beantworten oder einen Medizinball ­werfen können, werden sie mit Informationen geflutet. Infos von der Chefpsychologin («Wer mal einen Joint geraucht hat, ist deswegen noch nicht dienstuntauglich»), vom Chefarzt («Ob jemand tauglich oder untauglich ist, hat nichts mit der Qualität Mensch zu tun») und aus dem Promofilm für den Zivilschutz («Eine Gemeinde ohne Zivilschutz ist wie ein Familie ohne Kinder»).

Die Werbekampagne für Militär ist dann eine Gratwanderung: Während sich die eine Hälfte der Jungen erfahrungsgemäss für Gewehre, Panzer und Kampfjets begeistern kann, hat die andere Hälfte eine ablehnende Haltung. Begeisterungssalven für die Artillerie («Die Königin der Unterstützungswaffen») gehören deshalb genauso zum Programm wie ein Werbespot für den Spitalsoldaten («Das kann man auch machen, wenn man kein Blut sehen kann»). Für jeden Geschmack soll etwas dabei sein.

Der Stellungspflichtige

Giuseppe Gilles Fabiano sitzt in der ersten Reihe. Zwei besenstielbreite Tattoostreifen schmücken seinen linken Oberarm. Fabianos Eltern kommen aus Italien und Kanada. Den zweiten Vornamen verdankt er der Formel-1-Legende Gilles Villeneuve. Für Fabiano ist klar, dass er Militärdienst leisten will. «Es ist wichtig, dass man sich verteidigen kann, wenn etwas passiert», sagt er überzeugt. Offiziell ist die Schweiz erst seit August «sein Land». Da wurde Fabiano im Alter von 24 Jahren eingebürgert. Hätte er mit seiner Einbürgerung noch vier Jahre zugewartet, wäre er vom Militärdienst befreit. Aber das kam nicht infrage. «Ich bin hier aufgewachsen, das ist mein Heimatland.»



Am Ende des Infoblocks muss jeder drei Wunschfunktionen auf einem rosa Formular festhalten. Wichtig, dass man dabei auch ­seine beruflichen Qualifikationen berücksichtigt. Giuseppe ­Gilles Fabiano ist Fahrleitungsmonteur bei den SBB. Er schreibt: Panzermechaniker, Hundeführer und Fliegersoldat.

Der Eierkontrollgriff

Dann geht die Talentshow los. In sechs Gruppen aufgeteilt, bewegen sich die Männer durch den Parcours. Bei der medizinischen Untersuchung sehen viele zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Arzt. Alles wird gemessen und geprüft: Körpergrösse, Gewicht, Bewegungsapparat, Blutdruck, Seh- und Hörvermögen. Und die beiden EKG, das richtige Elektrokardiogramm und das, welches bei den Stellungspflichtigen unter falschem Namen zirkuliert: der «Eierkontrollgriff» – die Hodenkrebsuntersuchung.

Für Präventivmediziner sind diese Untersuchungen ein Lottosechser. Junge Männer sind bekannt dafür, dass sie selten bis nie freiwillig zum Arzt gehen. In Sumiswald gibt es kein Entrinnen. Dasselbe gilt bei den psychologischen Gesprächen, zu denen aber nur jeder Dritte aufgeboten wird. Über ihre echten Probleme reden Männer nicht gerne. Wirklich in die Tiefe gehen die Gespräche bei den Militärpsychologen auch nicht. Im Zentrum steht eine Frage: Kann man dieser Person eine Waffe in die Hand drücken?

Die Untauglichen

Um an die notwendigen Daten zu gelangen, füllen die Stellungspflichtigen während Stunden Tests aus. Der psychologische Test («Haben Sie Kriegshandlungen miterlebt?»), der Eignungstest für Kaderfunktionen («Sind Sie grundsätzlich mit jedem Menschen freundlich?»), die eidgenössischen Jugendbefragung («Wie wichtig ist Ihnen Religion?») sowie der Test 95, ein Intelligenztest, wo das Figur­erkennungsvermögen und der Wortschatz und geprüft werden.

Die Rekrutierung ist auch ein statistischer Hub, von dem Wissenschaft und staatliche Institutionen gleichermassen profitieren wollen. Nirgendwo sonst bietet sich so ein präziser Einblick in die Köpfe einer ganzen Generation. Auf dem Papier ist das Programm enorm dicht. Trotzdem ergeben sich immer wieder Wartezeiten. Das weiss auch Oberst Schori. Er weibelt dann in den Gängen umher und beantwortet Fragen der Stellungspflichtigen.

«Fliegersoldat? Eine fantastatische Aufgabe! Da ist man hautnah dran. Jeden Tag riecht man das Kerosin.»

«Chur? Ein wunderschöner Ort! Mit den heutigen ÖV-Verbindungen ist das keine Distanz mehr. Das macht zweimal Schwupps, und man ist da.»

Für manche geht das Abenteuer Rekrutierung aber bereits am ersten Tag zu Ende. Etwa jeder Zehnte wird nach Hause geschickt, weil er weder für das Militär noch für den Zivilschutz tauglich ist. Für die anderen steht eine kurze Nacht an. Ausgang gibt es keinen. Bei der Begrüssung wurde das schon fast entschuldigend mitgeteilt. Sumiswald sei ohnehin ETH («extrem tote Hose»), das bringe gar nichts. Dafür kann jeder, der will, am hauseigenen Kiosk zwei Flaschen Bier kaufen, damit es sich im Zimmer mit zwei wildfremden Männern besser schlafen lässt.

Der Sporttest

Es ist noch stockdunkel, als morgens um 7 Uhr gut 20 Personen mit Trägershirts vorsichtig die eisigen Trottoirs von Sumiswald passieren. Gruppe 4 muss zum Sporttest. Giuseppe Gilles Fabiano trägt einen dicken roten Pulli und blaue Strickhandschuhe mit weissen Sternen drauf. Für ihn gilt es ernst. Er braucht beim Sporttest mindestens 65 Punkte, damit er sich für seine gewünschten Funktionen qualifiziert.

Fünf Disziplinen stehen an:

Das grosse Finale ist der progressive Ausdauertest, besser bekannt als Conconi-Test. Bei den ersten vier Disziplinen läuft es Fabiano gut. Um die 65 Punkte zu erreichen, muss er beim Conconi nur noch wenige Minuten durchhalten. Bei minus 5 Grad drehen die jungen Männer – jeder Zweite in kurzen Hosen – ihre Runden. Über den Stadionlautsprecher erklingen Piepssignale. Bei jedem Intervall müssen die Männer bei der nächsten Markierung sein.

Die Intervalle werden schneller und schneller. Fabiano mag bald nicht mehr folgen und feuert nach seinem Ausscheiden Thomas Baumann an. Der Grindelwalder ist mit einem ehrgeizigen Ziel nach Su­miswald gereist: 100 Punkte im Sporttest, um eine möglichst herausfordernde Funk­tion zu bekommen, am liebsten Militärpolizeigrenadier.



Kampferfahrung sammeln, auf die Zähne beissen: Das ist sein Ding. Jetzt dreht er als einer der Letzten seine Runden. 22 Punkte braucht er, um sein Ziel zu erreichen. Im vollen Sprint wird er abgewinkt. Hats gereicht?

Das Imageproblem

Im Geräteraum der Turnhalle warten die Aspiranten bei einem Feldtee auf die Resultate. Nach einer Weile kommt die Ins­truktorin rein und verteilt jedem seinen Zettel. Thomas Baumann hat eine Punktlandung hingelegt: 100 Punkte. Auch Fabiano hat sein Soll erreicht. Es herrscht ­gute Stimmung. Vor der Rekrutierung kannte hier niemand niemanden. Aber in kurzer Zeit hat Gruppe 4 schon so etwas wie einen Teamspirit entwickelt. «Ich habe es mir viel, viel schlimmer vorgestellt», sagt Fabiano.

Es ist vielleicht das grösste Imageproblem, dass die Armee heute hat. Beschimpft und angebrüllt werden: In unserer Softgesellschaft lassen sich das die wenigsten freiwillig bieten. Immer mehr Kinder wachsen heute mit übervorsorglichen Eltern und hyperkorrekten Lehrern auf. Für sie klingen Geschichten von schikanösen und beleidigenden Militärvorgesetzten wie die Erzählungen aus einer Parallelgesellschaft. Zwar verhält sich das Gros der militärischen Führungskräfte heute absolut korrekt. Aber Geschichten von übergriffigen Vorgesetzten schaden noch immer dem Ruf der Armee.

Das Gespräch

Nachmittag, Einteilungsgespräche. Oberst Hans Schori sitzt in seinem Büro. Das Porträt von ­General Guisan an der Wand stammt noch von seinem Vorgänger. Eine alte Seemannsregel, sagt Schori: Wer an Bord das Kommando übernimmt, darf das Segel seines Vorgängers während der ersten Wochen nicht anrühren. Er selbst hat es nicht so mit dem Personenkult. Modestia – Bescheidenheit, eines der drei Grundprinzipien der Grenadiere.

Thomas Baumann, der 100-Punkte-Mann aus Grindelwald, ist im Begriff, so ein Grenadier zu werden. Oberst Schori macht dem 20-Jährigen klar, was das bedeuten würde. Fünf Wochen längere Rekrutenschule, Extrembelastung für Körper und Geist, knallharte Selektion. Trotz dieser Blut-Schweiss-und-Tränen-Rede schwingt in Schoris Worten etwas Schwärmerisches mit. «Das ist eine Lebensaufgabe, eine riesige Herausforderung.» Skicross-Fahrer Baumann hat genau das gesucht. Der Handschlag besiegelt die Einteilung. «Willkommen in der Familie», sagt Schori. «Enttäuschen Sie mich nicht.»

Der Zivildienster

Oberst Hans Schori ist Berufsberater und Verkäufer zugleich. Jeder, der sein Büro verlässt, soll überzeugt sein, dass er die rich­tige Funktion bekommen hat. «Manchmal sind die Jungen Kurzzeit-Opportunisten», sagt er. Für viele ist das Hauptargument, dass sie die RS möglichst nahe von zu Hause machen können. Dann braucht es Schoris ganze Überzeugungskraft.



Im Nacken hat Schori all die Rekrutenschulen, die halbjährlich Nachwuchs brauchen. Früher wollten alle nur die Besten. Heute sind viele froh, wenn sich für jedes Feldbett ein Rekrut ­findet. Wie viele Infanteristen braucht es im Ernstfall? Wie viele Artilleristen? Wie viele Kanoniere? In Sachen Krieg sind wir Schweizer Theoretiker. Schori erhält die Zahlen fixfertig von der Armeeführung. Er vergleicht es mit einem Hotel, das er füllen muss. An diesem Nachmittag kann Schori einige Betten buchen. Bei den Sanitätssoldaten, bei den Militärmusikern, bei den Nachschubsoldaten und bei den Panzersappeuren.

Aber der Funke von Schoris Enthusiasmus springt nicht jedes Mal über. Ein junger Mann kommt zur Tür hinein und sagt geradeaus, dass er lieber in den Zivildienst will. Schori argumentiert, empfiehlt den Spitalsoldaten («Kann man auch im waffenlosen Dienst machen»). Aber der junge Mann lässt sich nicht umstimmen. Seine Mutter arbeite in einem Altersheim. Er wolle da seinen Dienst leisten. «Haben Sie sich das gut überlegt? Der Zivildienst dauert eineinhalbmal länger», versucht es Schori noch einmal. Ohne Erfolg.

Der Hund

Giuseppe Gilles Fabiano muss nicht mehr überzeugt werden. Seine ersten zwei Tage im Dienste von Vater Staat waren Überzeugung genug. Er sitzt im Büro von Oberst Schori und erzählt seine Einbürgerungsgeschichte. «Ich freue mich, fürs Vaterland Dienst leisten zu dürfen», schliesst er stolz. Oberst Schori ist begeistert, auch von Fabianos Wunschliste. «Sehr gute Wahl. Ich habe überall freie Plätze.» Fabiano hat sich die Sache lange überlegt: Er will Hundeführer werden. Bei dieser RS bekommt jeder Rekrut einen Hund, den er ausbilden und dann auch behalten kann. «Diesen Hund zieht man auf wie ein Kind. Das ist etwas Schönes», sagt Fabiano.

Oberst Schori ist wieder voll in ­seinem Element: «Es gibt zwei Varianten: Sie gehen zu den Schutzhunden oder zu den Rettungshunden. Ich sehe Sie eher bei den Schutzhunden.» Fabiano müsse ihm nur noch versichern, dass er auch am Sonntagmorgen nach dem Ausgang immer mit Fido Gassi geht. Einige Mausklicks später ist die Sache geritzt. ­«Sommer 2018», sagt Schori.

Ein Bett weniger, das er füllen muss.

BZ-Redaktor Quentin Schlapbach absolviert die zweijährige Diplomausbildung an der
Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Diese Reportage ist seine Abschlussarbeit.

Impressum
Konzept/Schnitt/Text: Quentin Schlapbach
Fotos: Raphael Moser
Videos: Jan Weisstanner
Umsetzung: Claudia Salzmann

BZ-Redaktor Quentin Schlapbach absolviert die zweijährige Diplomausbildung an der
Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Diese Reportage ist seine Abschlussarbeit.

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