Warum braucht unsere Welt eine Revolution?
Die heute bestehende kannibalische Weltordnung des Raubtierkapitalismus kommt nur ganz wenigen Oligarchen zugute. Die 85 reichsten Milliardäre besitzen so viel Vermögen wie die 4,5 Milliarden ärmsten Menschen. Die 500 grössten Konzerne der Welt beherrschen 52,8 Prozent des jährlichen Weltsozialprodukts. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Das ist Mord.

Sie sprechen schon wieder von Mord. Man lässt Kinder ja kaum gezielt verhungern.
Vor ein paar Jahrzehnten verfocht man noch die fürchterliche Argumentation, dass der Hunger ein Naturereignis sei, das die Überbevölkerung steuere. Heute könnte man auf unserem Planeten problemlos das Doppelte der aktuellen Weltbevölkerung ernähren. Es ist eine Frage des politischen Willens. Jeder weiss heute, dass der Hunger menschengemacht ist und von Menschen aus der Welt geschafft werden kann.

Laut UNO ist die Zahl der Hungernden in den letzten 15 Jahren um 200 Millionen zurückgegangen von 18 auf 11 Prozent der Weltbevölkerung. Warum steht das nicht in Ihrem Buch?
Sie machen einen Denkfehler. Im Verhältnis zur Bevölkerung sinkt der Hunger prozentual. In absoluten Zahlen aber nimmt der Hunger zu. Und das zählt.

Sie bestreiten, dass es bei der Bekämpfung des Hungers ­Fortschritte gibt?
Es bleibt ein Skandal, dass wir auf der Erde die doppelte Bewohnerzahl ernähren könnten und es ­immer noch eine Milliarde Hungernde gibt. Deshalb braucht es den Aufstand des Gewissens. Mein Buch ist eine Waffe dafür.

Wer führt diesen Aufstand an? Weisse Vordenker wie Sie?
Die Leute müssen ihn selber führen. Aber wir müssen den Weg zeigen. Der Aufstand des Gewissens kommt, wenn die Forderung nach Gerechtigkeit so stark wird, dass der Boden aufbricht, wie wenn ein Maulwurf auftaucht. Bei meinen Lesungen höre ich immer: «Es stimmt ja, was Sie sagen, aber ich kann nichts dagegen tun.» Ich erwidere dann, dass es in der Demokratie keine Ohnmacht gibt. In demokratischen Ländern wie der Schweiz kann man alle grundlegenden Reformen durchsetzen, die die kannibalische Weltordnung stürzen.

Was für Reformen meinen Sie?
Die Auslandschulden armer Länder streichen und für einmal nicht für die Grossbanken, sondern im Sinne der Armen wählen. Oder die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmitteln verbieten, die ein Grund für das tägliche Massaker des Hungers ist. Weil ich deswegen neun Prozesse am Hals hatte, sage ich ganz deutlich: Diese Börsenspekulation ist legal. Aber: Sie treibt die Weltpreise für Grundnahrungsmittel in die Höhe, was für die Milliarde der Allerärmsten die Nahrung unerschwinglich macht. Ich habe es selber gesehen.

Wo?
In den Elendsvierteln von Lima in Peru in einem Reisdepot. Ich sah, dass die Mütter sich bloss einen Plastikbecher Reis leisten konnten. Dieser musste für die ganze Familie und den ganzen Tag genügen. Würde man die ­Börsenspekulation auf Nahrungsmitteln in vielen Ländern verbieten, wären Millionen von Menschen in kurzer Zeit gerettet.

In der Schweiz ist die Initiative gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln 2016 an der Urne gescheitert.
Leider. Der Aufstand des Gewissens muss dennoch kommen.

Die Welt ist schlecht, aber das Gute siegt dennoch?
Es gibt Hoffnung. Mein neues Buch heisst ja «Der schmale Grat der Hoffnung». Trotz fürchterlichen Elends und der fortschreitenden Akkumulation des Weltkapitals kommt die Bewusstseinswerdung des Menschen ­vorwärts. Die planetarische Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen wie Greenpeace, Amnesty, Attac, Via Campesina schreiten voran.

Warum erwähnen Sie nicht, dass die globalisierte Weltwirtschaft Millionen Menschen aus der Armut befreit hat?
Das Gegenteil ist wahr, sie macht die Welt kaputt. Jedenfalls der Raubtierkapitalismus. Die Globalisierungstheorie ist eine neoliberale Lüge und Wahnidee. Sie besagt, dass es den Menschen nicht mehr gibt als historisches Subjekt und dass die unsichtbare Hand des Marktes die einzige ­Regulationsinstanz ist, die das Schicksal der Menschen bestimmt.

Wissenschaft und Wirtschaft haben die Gesundheitsvorsorge und die Vernetzung von Millionen Menschen verbessert.
Natürlich, die Wissenschaft macht eindrückliche Fortschritte. Aber jede Errungenschaft wird von den Konzernen monopolisiert und der Profitmaximierung unterworfen.

Finden Sie das Engagement des Kapitalisten Bill Gates gegen Malaria nicht stark?
Er hat bloss ein schlechtes ­Gewissen.

Er hilft trotzdem Millionen.
Es ist gut, dass er einen kleinen Teil seines Riesenvermögens den Armen zukommen lässt. Aber Epidemien wie Aids töten immer noch Millionen, weil die Medikamente für drei Viertel der Betroffenen viel zu teuer sind. Das ist fürchterlich, auch wenn die Wissenschaft grossartige Fortschritte macht. Diese kommen den Ärmsten sehr beschränkt zugute.

Sie sagten, Sie seien präzise. Wie kommen Sie dann auf die aufsummierte Horrorzahl von 54 Millionen Menschen, die angeblich auf den Schlachtfeldern der Globalisierung fallen?
Die 23 Spezialorganisationen der UNO müssen in ihrem Geschäftsbericht jährlich Rechenschaft ablegen. Nimmt man die Opferzahlen der 23 Geschäftsberichte, kommt man wegen Kriegen, Epidemien, Hunger oder verseuchten Wassers auf 54 Millionen.

Erfahrungsgemäss werden da viele Leute doppelt gezählt, weil sie mehrfach von diesen Elendsformen betroffen sind.
Ja, diesen Einwand kann man machen. Das ändert nichts daran, dass Hunderte Millionen Menschen leiden.

Ist es nicht zynisch, eine Opferzahl zu nennen, die diejenige des Zweiten Weltkriegs toppt?
Man muss die Leute ja mitnehmen und wecken. Das wissen Sie als Journalist.

In den nächsten Jahrzehnten könnten Millionen von Jobs der Digitalisierung zum Opfer fallen. Beschäftigen Sie auch die Probleme der Zukunft?
Der Dichter Bertolt Brecht sagt: «Die einen sind im Schatten, die anderen sind im Licht, und man siehet die im Lichte, die im Schatten sieht man nicht.» Wir Privilegierten müssen denjenigen im Schatten eine Stimme geben.

Sie beschäftigen sich lieber mit Ihnen vertrauten als mit neuen Problemen?
Ein Mensch, der jetzt an Hunger stirbt, ist kein vertrautes Problem.

Beschleichen Sie manchmal Zweifel bei Ihrer Mission gegen Kapital und Globalisierung?
Ich sei ein primitiver Charakter und ein heruntergekommener Sozialdemokrat, sagt mein Sohn. Ich verdränge Selbstzweifel, die stören und schwächen nur. Man muss vorangehen wie bei einem Marathonlauf.

Mit 83 sehen Sie sich noch auf einem Marathonlauf?
Wir sind immer noch in der Vorgeschichte der Menschwerdung. Es herrscht noch nicht Solidarität auf der Welt, sondern Konkurrenzwahn.

Das tönt wie eine kommunistische Heilsfantasie.
Das ist keine Heilsfantasie. Es ist eine historische Aufgabe, dass diejenigen, die Freiheitsrechte haben, kämpfen für diejenigen, die sie nicht haben.

Glauben Sie wirklich, dass es einmal eine weltumspannende Solidarität geben wird?
Absolut. Unser Kollektivbewusstsein ist einfach noch zubetoniert.

Wir hätten schon ein paar Jahrtausende Zeit für die Herstellung globaler Gerechtigkeit gehabt. Und doch haben wir es nicht geschafft.
Wir hatten aber bis vor kurzem nicht genug Güter für alle. Die weltweite Solidarität wird kommen. Che Guevara sagte: «Die stärksten Mauern fallen durch Risse.» Die Risse mehren sich.