Herr Ziegler, auch Ihr neues Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» handelt vom bösen Finanzkapital und Ihrer Rolle als UNO-Funktionär und Weltverbesserer. Schreiben Sie eigentlich immer dasselbe Buch?
Jean Ziegler: Es ist die Welt, die leider immer gleich bleibt. Aber das Buch ist total neu. Das ist meine Autobiografie.

Machen Ihre Erlebnisse als UNO-Funktionär schon eine Autobiografie aus?
Mein Verleger sagt: Du musst Memoiren schreiben, die Leute wollen wissen, wer du bist. Aber ich hasse Memoiren. Mein Buch ist eine Pause am Wegrand. Ich blicke zurück und nach vorn. Ich ­beschreibe meine Unruhe vor dem Tod. Und ich erzähle meine jüngsten Kämpfe und Nieder­lagen im UNO-Menschenrechtsrat. Das ist doch interessant.

Sie schreiben, ein Buch sei eine Waffe gegen den Tod. Ein Buch kann ja kein Leben verlängern.
Aber es kann davon handeln, dass der Tod ein Mord ist. Die Zellerneuerung des Körpers verlangsamt sich ja, und es gibt einen natürlichen Tod. Das ist der Tod des Körpers. Aber: Das Bewusstsein ist kumulativ. Wir haben die Unendlichkeit in uns, die Ewigkeit beginnt, wenn wir auf der Welt ankommen. Es gibt kein natürliches Ende des Bewusstseins, es wird gewaltsam unterbrochen, weil der Körper stirbt. Dieser Unterbruch ist total inakzeptabel. Deshalb glaube ich an die Auferstehung.

Der Sozialist Jean Ziegler glaubt an die Auferstehung?
Ich glaube, dass die Einzigartigkeit jeder Person über den Tod ­hinaus besteht. Wenn wir sterben, stirbt das Bewusstsein nicht.

Wo ist es denn nach dem Tod?
Das weiss kein Mensch, weil nach dem Tod ja noch niemand zurückgekehrt ist. Wir können aber über den Tod hinausdenken und uns die Unendlichkeit vorstellen.

Sie sind 83-jährig. Haben Sie noch nie gedacht: Das wars, es ist genug, jetzt kann ich gehen?
So denke ich nicht. Victor Hugo sagt: «Ich will lebend sterben.» Der Tod hat aber auch etwas Gutes: Die Endlichkeit gibt Leben.

Würden wir unendlich leben, wäre das unendlich langweilig?
Und unendlich unverantwortlich. Jeder erlebte Moment zählt, weil wir ihn nicht mehr nach­holen und korrigieren können.

Sie schreiben, Sie hätten panische Angst vor dem Tod.
Ich habe Angst vor dem Unbekannten, vor dem Nichtwissen, was nach dem Tod kommt.

Haben Sie nicht eher Angst ­davor, dass Ihr tolles Leben ­aufhören wird?
Sie haben recht. Jeder Tag ist ein reines Wunder. Ich stehe am Morgen auf in Russin, diesem schönen Weinbauerndorf am äussersten Westende der Schweiz, ich gehe in den Garten und sehe den Montblanc.



Das tönt wie eine Anbetung Ihrer Umgebung. Sind Sie im ­Alter spirituell geworden?
Spirituelle Fragen nach der Auferstehung oder dem Sinn des Lebens sind dringender geworden, weil meine Zeit kürzer wird.

Fühlen Sie sich alt?
Die Sexualität und das Skifahren sind langsamer geworden.

Sie fahren mit 83 noch Ski?
Und wie! Es zeigt, wie privilegiert ich bin. Sie und ich, wir gehören zu den 13 Prozent der Weltbe­völkerung, die Weisse sind und seit 500 Jahren den Planeten beherrschen.

Denken und schreiben Sie jetzt auch langsamer?
Nein, im Gegenteil. Meine Bücher werden mit fortschreitendem Alter immer besser. Mein neustes Buch habe ich entspannter geschrieben als alle anderen. Natürlich auch, weil mir mein UNO-Mandat Immunität gibt. Ohne die hätte ich dieses Buch wegen des Risikos von gerichtlichen Klagen nicht schreiben können. In meinem Alter weiss man einfach viel. Beim Schreiben muss man die Gedanken durchgehen, sie zu Ende denken. Es ist wie eine Therapie.

Worauf hoffen Sie noch?
Auf die Revolution. Auf den ­Aufstand des Gewissens. Ich glaube an die Menschwerdung des Menschen. Es gibt die effek­tive und sich stetig verschärfende Ungerechtigkeit durch Krieg und Hunger. Aber es gibt auch die aufsteigende Linie des Bewusstseins, das mehr Gerechtigkeit einfordert.