Der letzte Umzug

Madlen und Hansruedi Känzig aus Ostermundigen ziehen in eine Alterswohnung. Sie folgen damit einem Boom.

Gerade Hansruedi fällt der Umzug nicht leicht.

Ein tiefer Seufzer entweicht Madlen Känzigs Kehle, als sie im Türrahmen steht und in das chaotische Zimmer blickt. «Einfach ist es nicht», sagt die Rentnerin. Am Boden liegen Kartonschachteln, manche bereits gepackt, andere noch leer. An der Wand steht eine alte, schwere Holzkommode. «Das war unser erstes Möbel. Über 60 Jahre gehörte es uns. Jetzt können wir es nicht mehr mitnehmen.»

Das Ehepaar Känzig, Madlen und Hansruedi, ist im Zügel­stress. Sie ist 83-jährig, er 88-jährig. Von ihrer 4½-Zimmer-Eigentumswohnung in der Rüti in Ostermundigen ziehen sie in eine 2½-Zimmer-Alterswohnung im Talgut in Ittigen. Dort wollen die beiden ihren Lebensabend verbringen. Ein letztes Mal umziehen, ein letztes Mal packen.

«Wir haben 38 Jahre lang in dieser Wohnung gelebt. Es tut schon sehr weh», sagt Hansruedi. Hier sind die Enkel zu Besuch gekommen, hier haben sie Geburtstage und Weihnachten gefeiert, sie haben gestritten und geliebt. «Als wir uns entschieden hatten, in eine Alterswohnung umzuziehen, hatte ich schlaflose Nächte», sagt er. Jetzt gehe es einigermassen. «Aber eigentlich ist es mir immer noch zuwider.»

Auslastung sinkt

Jedes Jahr stehen Hunderte ältere Ehepaare im Kanton Bern vor demselben Schritt wie Känzigs. Und es werden immer mehr. Aktuell sind rund 20 Prozent ­aller Bernerinnen und Berner über 65 Jahre alt. 2035 werden es gemäss Prognosen bereits 27 Prozent sein. Dasselbe gilt für die über 80-Jährigen – sie werden bis 2035 von 6 auf rund 10 Prozent der Bevölkerung an­wachsen.

Kein Wunder, dass kürzlich Andrea Hornung, CEO von Domicil, der grössten Betreiberin von Alters- und Pflegeheimen im Kanton Bern, sagte: «Wir sind als Gesellschaft noch nie vor einer derart grossen Herausforderung gestanden.» Denn nicht nur die Anzahl alter Menschen nimmt zu, sie werden auch immer älter. Zudem verändern sich deren Bedürfnisse. Selbstständigkeit ist das Wort der Stunde.

Das klassische Altersheim ist für Leute wie Känzigs nicht attraktiv. Es wird zu einem Auslaufmodell. Und auch ein Pflegeheim kommt für viele nur noch dann infrage, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. So nimmt die Auslastung in den Berner Heimen derzeit ab. Aktuell beträgt sie noch rund 92 Prozent. Das betreute Wohnen aber boomt.

«Kann es ‹gsorget› geben»

Madlen Känzig steht immer noch im Türrahmen. Was sich in den Jahren alles angesammelt habe, das könne man sich gar nicht vorstellen, sagt sie. «Als wir die beiden vorderen Male umgezogen sind, war das jeweils von einer kleinen Wohnung in eine grössere. Jetzt ist es umgekehrt.» Vieles – nicht nur die schwere Holzkommode – hat im neuen Heim keinen Platz mehr. «Ich nehme einen Abfallsack, schliesse die Augen, lasse Dinge darin verschwinden, schliesse den Sack und öffne die Augen wieder», sagt sie.

An einem Umzug hat kein Weg mehr vorbeigeführt. «Ich bin nicht mehr gut auf den Beinen, meine Kraft lässt nach», sagt Hansruedi. Die heutige Wohnung im fünften Stock ist zwar per Lift zu erreichen. Dieser beginnt aber ein halbes Stockwerk über dem Parterre und endet ein halbes Stockwerk unter der Wohnung.

Ein Altersheim aber war für Känzigs eine Schreckensvorstellung. «Mir geht es gut, und auch Hansruedi ist noch klar im Kopf. Wir wollen so lange wie möglich selbstständig bleiben», sagt Madlen. Unterstützung und Betreuung aber, das würden sie benötigen. Als im vergangenen November in der Altersresidenz Talgut eine Wohnung frei wurde, haben die beiden nicht mehr gezögert.

Dort ist das Mittagessen im Mietpreis inbegriffen, ebenso die Reinigung der Wohnung. Weitere Dienstleistungen können die beiden von der hauseigenen Spitex dazukaufen. Zudem gibt es eine Pflegeabteilung und einen 24-Stunden-Notfalldienst.

«Wenn Hansruedi allein zu Hause ist, muss ich mir künftig keine Sorgen mehr machen. Das wird eine grosse Entlastung», sagt Madlen. «Das musst du dir jetzt auch nicht machen», erwidert dieser leicht verärgert. «Trotzdem», sagt sie. «Ich kann es dann ‹gsorget› geben.»

Dass die Welt der älteren Menschen derzeit im Umbruch ist, sagt auch Peter Keller, Geschäftsführer des Heimverbandes Curaviva Bern. Zahlen zur Entwicklung von betreutem Wohnen gibt es aber kaum. Keller kann diese lediglich anhand der Mitgliederbeiträge abschätzen. So hat sich die Anzahl Wohnungen mit Dienstleistungen von 1884 im Jahr 2015 auf aktuell 3542 im Kanton Bern beinahe verdoppelt.

Die Umwälzungen sind auch auf nationaler Ebene sichtbar. Gemäss einer Studie der Credit Suisse wurden von 2015 bis 2017 Baubewilligungen mit einem Volumen von rund 1,3 Milliarden Franken für Pflegeheimprojekte erteilt, die auch den Bau von Alterswohnungen umfassten. Das entspricht dem doppelten Betrag, der für reine Pflegeheimprojekte aufgewendet worden ist.

Beim Wohnen mit Dienstleistungen gibt es aber ein Problem: Es ist teuer. In der Altersresidenz Talgut etwa, dort wo Känzigs hinziehen, kostet eine 2½-Zimmer-Wohnung zwischen 4300 und 5200 Franken pro Monat. Andernorts sind sie ab etwa 2500 Franken zu haben. Bezahlen müssen das die Rentner selber. Denn wer nicht pflegebedürftig im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes ist, erhält keine finanzielle Unterstützung.

«Gerade Bezüger von Ergänzungsleistungen können sich solche Wohnungen deshalb vielfach nicht leisten», sagt Peter Keller. Sie bleiben entweder zu Hause oder wechseln direkt in ein Alters- und Pflegeheim, wo die Unterstützungsleistungen höher sind. Das aber führt dazu, dass EL-Bezüger mit tiefem Pflegebedarf zu teureren Ansätzen betreut werden, als wenn sie in einer Wohnung mit Dienstleistung leben würden. Diese Fehlanreize müssten dringend be­hoben werden, fordert nicht nur Curaviva Bern, sondern auch ­andere Heimverbände und -vertreter.

Lange geplant

«Ja, wir sind in einer privilegierten Situation», sagt Hansruedi Känzig. Und ja, die Wohnung sei teuer. Aber für irgendetwas hätten sie in den letzten Jahrzehnten ja auch gespart, findet seine Ehefrau. Zudem haben die beiden ihre heutige Wohnung verkauft, ebenso das Auto.

Für die Altersresidenz Talgut haben sich Känzigs bereits 2003 entschieden. Damals haben sie sich dort angemeldet. «Es gab noch keine so grosse Auswahl wie heute. Wir wollten einfach sicher sein, dass wir etwas haben, wenn wir es benötigen», sagt Madlen.

Gerade Hansruedi fällt der Umzug aber noch immer schwer. Darüber sprechen tut er nicht gerne. Erst als Madlen in der Küche verschwindet und die Tür zumacht, sagt er: «Es beschäftigt sie, wenn ich ihr sage, dass ich keine grosse Freude habe.» Aber es sei nun halt mal so. Und: «Es ist der letzte Lebensabschnitt, der jetzt kommt. Ich bin der einzige meiner ehemaligen Klassenkameraden, der noch lebt. Das macht einem manchmal Angst.»

Negative Aspekte

Sorgen bereitet auch die Finanzierung – und zwar den Bundesparlamentariern. Anfang März überwies der Nationalrat eine Motion, mit der ermöglicht werden soll, dass betreutes Wohnen künftig über Ergänzungsleistungen finanziert werden kann. So könnten unnötige Heimeintritte vermieden werden. Senesuisse, der Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen in der Schweiz, bezifferte das damit verbundene Sparpotenzial allein bei EL-Bezügern kürzlich auf über 600 Millionen Franken pro Jahr. Der Bundesrat anerkennt das Anliegen zwar. Er ist aber der Meinung, dass die Unterstützung des betreuten Wohnens vorwiegend über die Kantone geschehen müsste.

In Bern jedoch sieht man dafür kaum Handlungsspielraum. Der Kanton sei bei den Ergänzungsleistungen an die national definierten Höchstgrenzen in Bezug auf die anrechenbaren Mietzinse gebunden, sagt Astrid Wüthrich, Vorsteherin des Alters- und Behindertenamtes (Alba). Das Problem müsse somit auf Bundesebene gelöst werden.

Wüthrich sagt zudem, dass es immer mehr Heime gebe, die auch günstige Wohnungen für EL-Bezüger anbieten würden. Und in der Stadt Bern werde im Rahmen eines Pilotprojekts geprüft, inwiefern die Gemeinde Finanzierungslücken schliessen könnte. Ende März wird dieses der Öffentlichkeit vorgestellt. «Wir diskutieren mit der Stadt eine Beteiligung an diesem Projekt», sagt die Alba-Chefin.

Denn auch für sie ist klar, dass betreutes Wohnen immer wichtiger wird. Sie sieht aber auch eine problematische Komponente: «In den letzten Jahren sind solche Angebote zu einem Geschäftsmodell geworden.» Je nach Umfang stellten sich laut Wüthrich etwa Fragen, wenn zur Wohnung gleich auch ein fixes Grundpaket an Dienstleistungen gekauft werden muss.

Mühsames Warten

Für Madlen und Hansruedi Känzig ist das kein Problem. «Ich freue mich, dass ich nicht mehr immer kochen muss», sagt die 84-Jährige. Sogar dem Umzug in eine kleinere Wohnung kann sie etwas Gutes abgewinnen. Ihr Ehemann war Beamter im VBS-Oberkriegskommissariat und hatte einen Karabiner zu Hause. «‹Dieses Ding zügeln wir nicht›, habe ich ihm gesagt», erzählt die Rentnerin. Deshalb sind die beiden zur Polizei gefahren und haben die Waffe inklusive Munition dort abgegeben.



Die Schützenabzeichen allerdings, die in der Wohnung auf der Rüti an der Wand hängen, kommen mit ins Talgut. «Alles kann ich ihm ja nicht wegnehmen», sagt sie. Hansruedi grinst. Die Abzeichen hätten einen emotionalen Wert, «sie erinnern mich an die Kameradschaft im Verein». Deshalb sei es ihm wichtig, dass sie mitkämen.

Wie es im Talgut sein wird, das können sich die beiden noch nicht so recht vorstellen. «Wenn wir dann erst einmal eingerichtet sind, dann wird es gut», glaubt aber Madlen.

In den kommenden Tagen werden ihre Kinder und Grosskinder vorbeikommen und jene Möbel oder Erinnerungsstücke abholen, die sie behalten wollen. Was nicht in Kisten verpackt ist, wird in der Wohnung gelassen und wird an den Käufer über­gehen.

Madlen: «Das jetzige Warten ist unmöglich. Ich kann noch nicht alles einpacken, da wir noch einiges benötigen. Gleichzeitig muss ich bereits packen, sodass wir dann parat sind.» Ende März ist es so weit.

Nächstes Kapitel: Der grosse Umzugstag ist da, die Nerven liegen blank.

Wie sieht die Zukunft der Altenpflege aus? Das ist die grosse Frage, vor der die Gesellschaft derzeit steht. Klar ist, dass das klassische Altersheim ein Auslaufmodell ist (siehe Haupttext). Der Boom der Wohnungen mit Dienstleistung und der Ausbau der ambulanten Altenpflege Spitex haben aber auch Folgen für die Pflegeheime. So nimmt deren Bettenauslastung im Kanton Bern ab, aktuell beträgt sie noch 92 Prozent. Das Durchschnittsalter beim Eintritt liegt mittlerweile bei 81 Jahren, die Aufenthaltsdauer hat sich von über 1000 Tagen (2011) auf 800 (2017) verringert.

Trotzdem glauben sowohl Peter Keller von Curaviva Schweiz als auch Astrid Wüthrich vom kantonalen Alters- und Behindertenamt nicht, dass Pflegeheime überflüssig werden. Es werde immer Leute geben, die intensive Pflege benötigten. «Momentan ist die Auslastung zwar rückläufig. Das wird in 10 Jahren, wenn die Babyboomer-Generation pflegebedürftig wird, wieder anders sein», sagt Wüthrich. Trotzdem hat auch beim Kanton ein Umdenken stattgefunden. Noch 2016 kam dieser zum Schluss, dass es bis 2035 zusätzlich zu den aktuell bewilligten 15500 Betten für intensive Pflege zwischen 4800 und 6500 zusätzliche Plätze benötigt, um den erwarteten Bedarf decken zu können.

Heute sagt Wüthrich: «Ein Ausbau der Kapazitäten ist derzeit nicht vorgesehen.» Bei den Berechnungen von 2016 seien die Spitex und die Zwischenstrukturen wie betreutes Wohnen nicht genügend berücksichtigt geworden. Diese könnten aber vermutlich einen grossen Teil der zusätzlich benötigten Kapazitäten abfedern. Ihr schwebt vor, dass künftig stärker in Dienstleistungszentren gedacht wird, wo alle Formen der Betreuung und Pflege aus einer Hand angeboten würden. «Die Übergänge von ambulant zu stationär müssen fliessender gestaltet werden», sagt Wüthrich.

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