Seit drei Wochen leben du und dein Mann Hansruedi in einer Alterswohnung. Hier musst du nicht mehr kochen. Wie ist das?

Es ist schön. Ich kann morgens spazieren gehen, und wir können uns dann einfach im Restaurant an den Esstisch setzen. Es gibt dort aber auch Gerichte, bei welchen die Zutaten nicht zusammenpassen und die ich so nicht auftischen würde. Da ich mein Leben lang gekocht habe – mittags, abends und sogar in den Ferien –, vermisse ich deshalb manchmal meine frühere Küche. Hansruedi geht das auch so.

Und sonst, wie hast du dich eingelebt?

Gut. Ich geniesse besonders, dass ich nichts mehr tun muss, nicht einmal mehr putzen. Ich darf nur noch geniessen. Falls Hansruedi etwas zustossen sollte, haben wir zudem Hilfe im Haus.

Gerade ältere Leute sind vielfach der Meinung, früher sei alles besser gewesen. Auf dich trifft das also nicht zu?

Einige Dinge waren schon besser. Die heutige Hektik gab es früher noch nicht, und die Leute hatten Zeit füreinander. Alles war gemütlicher. Man konnte miteinander noch einen Schwatz halten. Gerade im Tram oder im Bus ist das verloren gegangen. Alle sitzen hinter ihren Handys.

Smartphones vereinfachen vieles. Auch du hast eines und sogar ein Tablet.

Ich finde sie ja nicht per se schlecht. Sie leisten uns auch einen Dienst. Wenn man aber über 80 Jahre alt ist, kommt man einfach nicht mehr zurecht mit der Technik. Ich auf jeden Fall nicht und mein Mann noch weniger. Wir begreifen die Zeit nicht mehr.

Sprach man früher im Bus nach Bern wirklich miteinander?

Ja, wir sprachen über Kinder, Krankheiten oder den Garten. Heute sind alle anonym unterwegs. Das stört mich. Niemand hat mehr Zeit hinzuhören. Ich vermisse die Menschlichkeit.

Gerade für Frauen war es früher doch kaum menschlicher. Gleichberechtigung war ein Fremdwort.

Das stimmt. Der Mann befahl, und die Frau gehorchte. Ich war daheim, kochte, machte die Wäsche und auch alles andere.

Warum hast du dich nicht gewehrt und dich mit anderen Frauen zusammengetan?

Das kam uns einfach nicht in den Sinn. Wir waren nicht so fortschrittlich wie die heutigen Frauen. Wir kannten ja auch nichts anderes. Wenn man früh heiratete und der Mann dann noch älter war, gab es keine andere Option. Zudem kannte man sich in der Nachbarschaft auch nicht besonders gut. Duzis war man nicht. Ich war mit einer einzigen anderen Frau per Du.

Das ist doch auch eine Form von Anonymität…

Ja, das stimmt. Die Männer waren ja auch froh, dass wir geschwiegen haben.

Wann hat sich das für dich geändert?

Als die Kinder in die Oberstufe kamen und ich in die Trachtengruppe ging. Dort war ich Präsidentin und lernte, wie es ist, vor Leuten zu stehen. Als die Töchter dann auszogen, mussten mein Mann und ich uns auch neue Gesprächsthemen suchen. Vorher redeten wir oft über den Nachwuchs. Ein Teil von uns zog mit den Kindern aus, das war ein grosser Einschnitt.

Zählte die Familie früher mehr?

Ich glaube schon. Man sass noch jeden Mittag oder Abend zusammen am Tisch und erzählte sich, was man erlebt hat und wie es einem ging. Das ist heute anders. Die Frauen sind selbstständig und arbeiten. Wenn es mit dem Ehemann nicht mehr geht, dann lässt man sich halt scheiden. Früher biss man durch, war für die Familie da und machte weiter.

War das denn wirklich besser?

Nein, eigentlich nicht. Aber es war halt die damalige Zeit. Wir hätten auch gar kein Geld für eine Trennung gehabt, wenn wir eine solche denn gewollt hätten. Ich war nicht berufstätig, und als Damenschneiderin hätte ich zu wenig verdient, um mir eine eigene Wohnungen zu leisten. Wir mussten in Gottes Namen zusammenhalten.

Viele Paare teilen sich heutedie Kindererziehung und den Haushalt. Auch Väter wollen nach der Geburt des Kindes Urlaub. Was hältst du davon?

Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht. Die Männer haben die Kinder ja nur gezeugt.

Das tönt etwas hart...

Ich meine damit, dass man früher mit den Kindern viel sachlicher umging. Wir hatten schon Freude an ihnen und lobten sie mal. Heute ist alles so übertrieben und überspielt. Kinder bewegen sich auf Augenhöhe mit ihren Eltern. Manche Sprösslinge tyrannisieren sie sogar, widersprechen ihnen die ganze Zeit. Wir hätten das nie geduldet.

Was hättet ihr denn getan? Sie geohrfeigt?

Nein, das habe ich nie getan. Vielleicht habe ich ihnen mal eins aufs Füdli gehauen, wenn sich die Töchter nicht benommen haben. Das kam aber nicht oft vor. Sie haben mir das auch nie vorgeworfen.

Körperliche Züchtigungen sind heute unvorstellbar.

Dafür ist die heutige Generation verweichlicht. Ich sage nicht, dass ich Schläge befürworte. Aber man muss den Kindern Grenzen aufzeigen.

Verweichlicht?

Ihr rennt wegen jeden Fiebers und Bienenstichs zum Doktor. Dann impft ihr nicht einmal mehr. Wir sehen jetzt, was mit den Masern geschieht. Wir übernahmen viel mehr Selbstverantwortung. Wenn ein Kind krank war, dann haben wir erst einmal Wickel gemacht und sind nur im Notfall zum Arzt gegangen.

Das mag sein. Dafür mussten die Mütter den ganzen Tag zu Hause sein. Heute können wir Karriere machen und Kinder haben.

Ja, das ist gang und gäbe. Für mich ist es aber unverständlich, wie man ein Kind früh wecken und es noch schlaftrunken in die Kita bringen kann. Ich hatte schon Mühe, wenn die grössere Tochter ein paar Stunden im Kindergarten war.

Du fändest es also schlecht, wenn ich ein Kind bekommen und es in die Kita geben würde?

Ich würde dich fragen, ob es nicht besser wäre, zum Kind zu schauen statt zum Beruf. Du könntest doch später wieder einsteigen.

Ich hätte Angst, dass ich den Anschluss verlieren würde.

Genau so sind die heutigen Frauen. Sie wollen ihre Karriere nicht aufgeben und sogar noch aufsteigen. Deshalb ist es doch sinnvoll, wenn sie gar keine Kinder haben.

Nachdem du Mutter geworden warst, brachte dir die Schneiderinnenausbildung überhaupt noch was?

Ja, ich habe lange nebenbei weiter genäht. Ich hatte die Kinder aber die ganze Zeit bei mir. Wenn sie etwas hatten, dann war ich da. Jeden Mittwoch ging ich mit ihnen in den Wald, ich nähte dort, sie spielten und sprangen herum. Das war wunderbar. Heute ist das alles verloren.

Was denkst du denn von uns? Wir sind selbstständig, emanzipiert, gehen am Wochenende in den Ausgang.

Ich mag euch das alles gönnen, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Wir waren auch am Wochenende immer daheim. Wir vermissten aber nichts. Ich habe den Abend mit Lesen oder Radiohören verbracht. Wenn ich so zurückdenke, dann waren wir langweilige Leute.

Du hast Hansruedi aber auch beim Tanzen kennen gelernt. Du warst also ab und zu weg?

Wenn im Gasthof Laufenbad in Krauchthal von den Platzgern, den Schützen oder dem Chor etwas organisiert wurde, dann ging man hin. Allerdings war das selten.

Was würdest du denn in deinem Leben noch tun, was du noch nie getan hast?

Eigentlich bin ich sehr glücklich mit meinem Leben und habe keine Wünsche mehr offen. Ich war in den Ferien, bin geflogen, war auf dem Meer und sogar einmal im Helikopter. Nur gute Gesundheit, das wünsche ich mir, und das allein ist ein grosser Wunsch.

In einer losen Serie begleitet diese Zeitung Madlen und Hansruedi Känzig bei ihrem letzten Umzug – von ihrer Eigentumswohnung auf der Rüti in Ostermundigen in die Seniorenresidenz Talgut in Ittigen.