Schwieriges Ankommen

Der Umzug in die Alterswohnung hat bei Madlen und Hansruedi Känzig Spuren hinterlassen.

Nur kurz blitzt der Schalk von Hansruedi Känzig (88) auf. «Jetzt musst du mir etwas Rechtes geben», sagt seine Tischnachbarin, während er die Jasskarten mischt. «Mal schauen», erwidert er und lächelt verschmitzt. Dann wird er wieder ernst, verteilt die Karten. Herz-Neun, Schaufel-Sieben, Ecken-Ass, Kreuz-Sechs. Eine nach der anderen nimmt Hansruedi Känzig auf, ordnet sie in seiner Hand.

«Herz ist Trumpf», sagt seine Nachbarin und spielt sogleich aus. Nach nicht mal einer Minute ist die Runde zu Ende. «21, 32, 33. Das ist alles», zählt der 88-Jährige die Punkte. Die Nachbarin kommt auf 124. Es war offenbar etwas Rechtes, was er ihr ausgeteilt hat.

Es ist still im Säli der Seniorenresidenz Talgut in Ittigen. Gesprochen wird nur wenig und wenn schon, dann zwischen den Runden. Zwölf Leute haben sich an diesem Mittwochnachmittag zum wöchentlichen Jassen eingefunden. Mittendrin sitzt Hansruedi Känzig. Unter den Senioren fällt er mit seinem weissen Haar und dem Gehstock nicht weiter auf. Er scheint zufrieden, ja glücklich.

Verdrängte Gefühle

Noch im März war das ganz anders. Damals stand Känzigs letzter Umzug an. Von einer 4½-Zimmer-Wohnung auf der Rüti in Ostermundigen ging es für Hansruedi und seine Frau Madlen in eine 2½-Zimmer-Alterswohnung in Ittigen. Gerade ihm machte der Umzug zu schaffen. Er wollte eigentlich nicht weg aus dem Daheim, wo das Ehepaar 38 Jahre lang gelebt hat. Die Gesundheit aber – Hansruedi ist nicht mehr gut auf den Beinen – zwang Känzigs zu diesem Schritt.

Madlen blickte dem Umzug stets positiver entgegen. Endlich nicht mehr kochen, putzen, einkaufen. Endlich die Gewissheit, dass im Notfall jemand schnell vor Ort ist. Darauf freute sie sich Ende März.

Mittlerweile sind beinahe drei Monate vergangen. Und es sollte ganz anders kommen als damals vermutet. Es war nicht Hansruedi, der den Umzug kaum verkraftet hat, sondern Madlen.

«Von dem Moment an, als ich das letzte Mal den Schlüssel unserer alten Wohnung im Schloss gedreht hatte, ging es nur noch bachab», sagt die 84-Jährige. Zwei Stunden vor dem Jassnachmittag sitzt sie mit Hansruedi oben im vierten Stock der Seniorenresidenz in ihrem neuen Daheim. Es habe sich angefühlt, wie wenn jemand die Luft aus einem Ballon gelassen hätte, so Madlen. «Ich war mit den Nerven komplett am Ende, hätte nur noch weinen können.»

Er habe es ein wenig kommen sehen, sagt Hansruedi. «Du hast dich beim Umzug einfach überschätzt.» Tatsächlich hat Madlen das meiste selber gemacht, Hansruedi konnte nur bei administrativen Dingen helfen. Sie ist mit dem Auto hin- und hergefahren, hat Kisten verpackt und transportiert. Die beiden Töchter haben zwar mit angepackt, doch so richtig hat Madlen auch das nicht zugelassen. Hinzu kam die emotionale Belastung. Während Hansruedi offen darüber gesprochen hat, wie sehr ihn den Umzug schmerzt, hat Madlen geschwiegen. «Ich habe verdrängt, dass es auch mich belastet, und lieber weiter gepackt.»

All das führte dazu, dass Madlen immer tiefer in eine Krise rutschte, während sich Hansruedi langsam im neuen Daheim einlebte. Sogar Dinge, auf die sie sich vorher gefreut hatte, wurden zu einem Problem. «Das Kochen, Putzen und Einkaufen gab mir einen Rhythmus. Den hatte ich plötzlich nicht mehr», sagt Madlen. Vor zwei Wochen zog sie schliesslich die Reissleine und suchte sich ärztliche Hilfe.

Problematische Nähe

Jetzt gehe es ihr langsam besser. Madlen beginnt wieder die positiven Aspekte des Umzugs zu sehen. Im Storenkasten der neuen Wohnung haben sich Mauersegler eingenistet. «Ich kann ihnen stundenlang zuschauen.» Das neue Daheim gefalle ihr, ebenso die Aussicht. Und wenn sie einmal selber kochen will, dann kann sie das tun.

So richtig angekommen ist aber auch Hansruedi noch nicht. Zwar habe er im Vorfeld des Umzugs mehr gelitten als in den letzten drei Monaten. Aber: «Ein Umzug verkraftet man im Alter einfach nicht mehr so leicht wie damals, als wir noch jung waren», sagt er. Wenn er am Morgen aufwache und noch im Bett liege, dann denke er oft an die Wohnung in der Rüti. «Es ist einfach nicht dasselbe hier.»

Tatsächlich sieht die neue Wohnung komplett anders aus. Weil sie nur halb so gross ist, konnten Känzigs kaum Möbel mitnehmen. Die alten, schweren Holzkommoden und -schränke sind einem weissen Sideboard gewichen, es gibt nur noch zwei abgetrennte Zimmer. Obschon die beiden seit 64 Jahren verheiratet sind, ist die dadurch entstandene Enge nicht einfach. «Wir hocken aufeinander. Es ist schwierig, wenn man sich zurückziehen möchte, aber nur das Schlafzimmer zur Verfügung steht», sagt Hansruedi.

Für Madlen gibt es in solchen Momenten nur eines: «Ich muss nach draussen gehen und einen Spaziergang machen», sagt die rüstige Rentnerin. Jeden Nachmittag geht sie in den benachbarten Wald und macht eine Runde. «Ich bin noch nicht richtig zur Ruhe gekommen, auch wenn es besser wird.»



Hansruedi Känzig hingegen hat schnell den Anschluss gefunden. Er kommt leicht mit anderen Personen ins Gespräch, geniesst das. Lange Spaziergänge liegen für ihn sowieso nicht mehr drin. Und die Beine würden weiter an Kraft verlieren. Deshalb werde er sich wohl bald nach einem Rollator umsehen müssen. «Testen jedenfalls werde ich mal einen.»

Dann ist es Zeit für die wöchentliche Jassrunde. «Früher war ich ja quasi Jassprofi», sagt Hansruedi noch. «Aber jetzt in unserem Alter geht alles ein wenig langsamer.» Im Säli ist an diesem Nachmittag davon allerdings kaum etwas zu merken.

Und Madlen? Jassen ist nichts für sie. Sie sitzt an einem Tisch etwas abseits, trinkt noch etwas. «Ich war schon immer eine Einzelgängerin», sagt sie. Den Kontakt zu anderen Heimbewohnern sucht die rüstige Rentnerin deshalb nur zögerlich. Dann will sie sich auf den Weg machen. Der Spaziergang wartet. Zuerst aber senkt sie noch die Stimme, flüstert beinahe. «Mir geht es körperlich noch so gut. Manchmal frage ich mich schon, was ich in einer Seniorenresidenz überhaupt verloren habe.»

In einer losen Serie begleitete diese Zeitung Madlen und Hansruedi Känzig bei ihrem letzten Umzug – von ihrer Eigentumswohnung auf der Rüti in Ostermundigen in die Seniorenresidenz Talgut in Ittigen. Dies ist der vorerst letzte Artikel.

Die Journalisten Marius Aschwanden und Claudia Salzmann erzählen in der neuen Podcast-Serie «Rede wie druckt», wie es zur Serie kam, wie sie Nähe wahrnahmen und die Känzigs mit dem Umzug haderten:


Impressum
Fotos: Beat Mathys
Texte: Marius Aschwanden / Claudia Salzmann
Videos/Umsetzung: Claudia Salzmann

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Fotos: Beat Mathys
Texte: Marius Aschwanden / Claudia Salzmann
Videos/Umsetzung: Claudia Salzmann

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