Madlen und Hansruedi Känzig sind fix und fertig.

Wie Hunderte ältere Ehepaar jedes Jahr sind die beiden über 80-Jährigen ein letztes Mal umgezogen.

Es war ein Kraftakt.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Madlen und Hansruedi Känzig stehen oben in ihrer beinahe leer geräumten Wohnung im fünften Stock. Alles, was die beiden 83- und 88-Jährigen in ihrem letzten Lebensabschnitt noch be­nötigen, ist in den Umzugstransportern verstaut. Kurzerhand packt die rüstige Dame ein übrig gebliebenes Bild unter den Arm, nimmt ihre Handtasche und kehrt der Wohnung mit ­entschlossenen Schritten den Rücken.

Zurück bleibt Hansruedi. In Gedanken verloren und auf seinen Gehstock gestützt, geht er zur Umkleidekammer neben der Eingangstür. Langsam zieht er die Schuhe an, dann die Jacke. Er wirft einen letzten traurigen Blick in die Zimmer, macht einen Schritt in die eine, dann in die andere Richtung. Nur nicht zur Wohnungstür raus. Es scheint, als wollte er den unvermeidlichen Abschied so lange wie irgend möglich rauszögern. Dann reisst er sich doch los.

Unten wartet Madlen bereits im Auto. Hansruedi steigt ein. Dann bricht er aus ihm heraus, der Frust der letzten Tage, Wochen, Monate. Frust über den unfreiwilligen Umzug, Frust über die eigenen körperlichen Gebrechen, Frust darüber, beim Zügeln nicht richtig helfen zu können, weil die Beine zu schwach sind. Die beiden streiten, wie man es ansonsten nur von jungen Paaren kennt.

Frust und Freude



«Die Nerven liegen bei uns beiden blank. Es hat halt einfach geknallt», wird Madlen später sagen. Kein Wunder. Es ist keine einfache Zeit für Känzigs. Ihr letzter Umzug steht an. Von ihrer 4½-Zimmer-Wohnung auf der Rüti in Ostermundigen ziehen die beiden in eine 2½-Zimmer-Alterswohnung im Talgut in ­Ittigen. Dort wollen sie ihren Lebensabend verbringen. Gut umsorgt – mit einem täglichen Mittagessen im Restaurant, einem 24-Stunden-Notfalldienst und einer Pflegeabteilung.

Am Umzug hat letztlich kein Weg mehr vorbeigeführt. Hansruedi ist nicht mehr gut auf den Beinen. Die alte Wohnung, wo die beiden 38 Jahre lang gelebt haben, ist zwar per Lift zu erreichen. Dieser beginnt aber ein halbes Stockwerk über dem Parterre und endet ein halbes Stockwerk unter der Wohnung. Gerade dem 88-Jährigen aber macht der Umzug zu schaffen. Er muss sich nicht nur von seinem Daheim trennen, sondern auch von vielen Möbeln. Diese haben in der Seniorenresidenz Talgut schlicht keinen Platz mehr.

Madlen auf der anderen Seite freut sich. Für sie ist der Umzug eine Entlastung. Sie muss sich endlich keine Sorgen mehr um Hansruedi machen, wenn er allein zu Hause ist. Und sie muss nicht mehr so viel kochen und putzen.

Im Alleingang

Zwei Stunden vor dem Streit im Auto sitzt Hansruedi Känzig auf einem Stuhl im Wohnzimmer der alten Wohnung. «Ich habe versucht zu helfen», sagt er. Bilder habe er abgehängt, Nägel aus­gezogen. Aber schwere Dinge ­tragen kann er nicht mehr. Das zu akzeptieren, sei schwierig. «Manchmal macht es mich richtig wütend», sagt Hansruedi. Von der viel gelobten Gelassenheit des Alters ist nichts zu spüren.

Auch bei Madlen nicht. Sie wirbelt umher, packt Gegenstände in Kisten und gibt den Umzugsleuten Anweisungen. Irgendwo dazwischen stehen die beiden Töchter Beatrice Blöchlinger und Ruth Karau. Sie sind gekommen, um die Eltern zu unterstützen.

Für die Töchter fällt am Umzugstag ein Stein vom Herzen:


Bereits die ganze Woche über sind Känzigs mit dem Umzug beschäftigt. Die Schlüssel zur neuen Wohnung haben sie seit Montag, jenen zur alten überreichen sie dem neuen Besitzer erst in einigen Tagen. Fünfmal ist Madlen diese Woche bereits mit dem Auto hin- und hergefahren. Quasi im Alleingang hat die 83-
Jährige bereits die wichtigsten Dinge gezügelt, bevor es zu spät ist. Denn das Auto ist verkauft. Am 1. April ist Übergabe.

Sie sei an ihre Grenzen gestossen, sagt Madlen. «Ab und zu habe ich gedacht, wir schaffen das nie. Jetzt aber kommt es gut.» Ausgerechnet am Tag vor dem definitiven Umzug ist aber dann auch noch der Lift ausgestiegen. Treppensteigen war von da an angesagt. «Das war schon sehr mühsam.» Todmüde sei sie gewesen, als sie am Vorabend ins Bett gefallen sei. «Deshalb habe ich auch gut geschlafen», sagt Madlen.

Mittlerweile ist es 10 Uhr, Zeit für das Znüni. Noch einmal geben Känzigs am Wohnzimmertisch Geschichten über die alten Zeiten zum Besten. Einmal kurz innehalten und durchatmen. Dann gehen sie. Endgültig.

Runterfahren



Im Talgut angekommen, ist den beiden nicht viel von ihrem Streit anzumerken. «Für mich ist der Umzug halt immer noch ein Müssen. Da kann es schon mal Chritz geben. Aber das geht vorbei», sagt Hansruedi lediglich. Und Madlen? Ihr steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. An eine Pause aber denkt sie nicht. Sie sehnt es geradezu herbei, dass die neue Wohnung fertig eingerichtet ist. «Dann können wir endlich ein wenig runterfahren.»

Kaum kommen die beiden im neuen Daheim an, bringen die Zügelmänner auch schon die Möbel. Beatrice Blöchlinger und Ruth Karau übernehmen nun einen grossen Teil der Arbeit. Sie ziehen das neue Bett an, platzieren Sofas und Tisch, montieren Vorhänge. Beide sind froh, dass der Umzug nun endlich über die Bühne geht. «Es gab grosse Spannungen in der ganzen Familie», sagt Karau. Denn auch für sie sei es emotional belastend, zu sehen, wie wenig Freude Hansruedi am neuen Zuhause habe.

Man müsse aber auch die Relationen wahren, findet hingegen Blöchlinger. «Unsere Eltern sind enorm privilegiert. Sie haben eine wunderschöne Wohnung und werden bestens umsorgt.» Vielleicht habe der Vater heute noch keine Freude. Er werde sich aber daran gewöhnen. Möglicherweise sogar schneller als die Mutter, glaubt Karau. «Hansruedi ist kommunikativ, geht auf die Leute zu. Das macht unsere Mutter weniger.»

Der 88-Jährige sitzt derweil auf dem Sofa, schaut umher im kleinen, aber hellen Wohnzimmer. Er wirkt ein wenig verloren. Dann aber kann er der neuen Wohnung trotzdem schon etwas Gutes abgewinnen. «Jetzt, wenn die Möbel hier sind, gefällt es mir ein wenig besser», gibt er zu. Und dann ist da auch noch etwas, worauf er sich sogar freut – jedenfalls ein wenig: die wöchentliche Jassrunde. «Ich habe versprochen, dass ich teilnehme. Aber zu häufig will ich nicht gehen. So einmal pro Woche wäre mir egal.»

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