Als in Bern alles still stand

Vor 100 Jahren kam es in Bern und Zürich zur Ausrufung des ersten Schweizer Generalstreiks.

Im November 1918 war das Bundeshaus militärisch besetzt.

Der Bundesrat schützte sich mit Truppen vor den Streikenden.

Am späten Abend des 7. Novembers 1918, vor genau 100 Jahren, eilt Robert Grimm angespannt durch die dunkle Stadt Bern – vom Volkshaus an der Zeughausgasse ins Monbijouquartier. Er ist unter Zeitdruck, denn in der Unionsdruckerei an der Kapellenstrasse 6 laufen bald die Druckmaschinen an. Grimm überbringt den Aufruf für einen eben im Volkshaus beschlossenen, 24-stündigen Proteststreik am Samstag in 19 Städten der ganzen Schweiz. 

Am nächsten Tag, einem Freitag soll er in der Berner Tagwacht, der Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei, und auf Flugblättern angekündigt werden. Der Proteststreik ist ein Probelauf für einen noch viel grösseren Streik sein, der ein paar Tage später die Schweiz erschüttern wird. Die Stimmung in Bern ist leicht hysterisch.

Mitten drin: der charismatische Arbeiterführer Robert Grimm (37). 1909 ist der Zürcher als Tagwacht-Chefredaktor nach Bern gekommen und hat seither eine steile Karriere hingelegt. Er sitzt für die SP im Nationalrat sowie im Gemeinderat der Stadt Bern, und er ist der Präsident des Oltener Aktionskomitees (OAK). Das Gremium aus Vertretern der SP und der Gewerkschaften ist die Streikzentrale. 

In den Berner Tageszeitungen überstürzen sich damals lauter schlechte Nachrichten: Im Monat Oktober sind in Langnau im Emmental 23 Menschen an der «bösartigen» spanischen Grippe gestorben. Der Stadtberner Gemeinderat verbietet wegen der Ansteckungsgefahr öffentliche Leichenfeiern, Versammlungen, Aufführungen oder Feste. Die linke Tagwacht kritisiert scharf, dass die Armeespitze «gesunde und kranke Soldaten der Grenztruppen  im selben Kantonnement einquartiert». Die bürgerlichen Blätter Bund und Berner Tagblatt berichten, wie die Armen in Bern oder Biel unter dem hohen Milchpreis und der schlechten Kartoffelversorgung leiden.

Die linke Tagwacht ruft dazu auf, am 10. November den ersten Jahrestag der sozialistischen Revolution in Russland zu feiern. Die bürgerlichen Blätter aber warnen vor einer«bolschewistischen Revolution» in der Schweiz. Und dauernd funkt die grosse Weltgeschichte ins lokale Geschehen hinein. Täglich publizieren die Zeitungen Berichte von den Fronten des Ersten Weltkriegs, der einfach nicht aufhören will. Mitte Oktober berichten die Berner Blätter, dass das österreich-ungarische Kaiserreich in seine Teilstaaten zu zerfallen drohe. Die Welt ist in jenem heissen Herbst vor 100 Jahren aus den Fugen. Die alte Ordnung zerbricht, die neue aber ist noch im Nebel. Auch in Stadt und Kanton Bern herrscht eine explosive Gemengelage.

Zorn auf den Bundesrat

Unter den Delegierten des Oltener Aktionskomitees, die am 7. November gegen Abend im Volkshaus eingetroffen sind, ist die Stimmung aufgeheizt. Denn der Bundesrat hat für die Sicherung von Zürich gegen Unruhen und Streiks nicht weniger als vier Truppenregimente mitten in die Stadt aufgeboten. Die Zürcher Kantonsregierung hat überdies die geplante lokale Feier zum Jahrestag der russischen Revolution verboten.  Das OAK will nun mobil machen gegen die Notlage der Arbeiterschaft und die selbstherrliche Notstandspolitik des bürgerlichen Bundesrats. Der Entscheid für den eintägigen Proteststreik am Samstag, dem 9. November erfolgt einhellig.

Am gleichen Abend wird der Berner Korpskommandant Eduard Wildbolz durch ein Telegramm zu General Ulrich Wille ins Grandhotel Bellevue unweit des Bundeshauses aufgeboten. Dort logiert der Oberkommandierende der Armee. Wildbolz erfährt, dass er zum Platzkommandanten über die Stadt Bern ernannt wird. Wille hat den Bundesrat am Montag mit einem aufgeregten Memorial erfolglos zu überzeugen versucht, wegen der drohenden Gefahr eines «bolschewistischen Putschs» präventiv alle grösseren Städte militärisch zu besetzen.

Nicht Wille, sondern der Bundesrat hat Wildbolz als Berner Platzkommandanten ausgewählt. Denn der Berner gilt als moderater Offizier und nicht als Heisssporn, der mit einem harten Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung noch die Stimmung anheizen könnte. In seinen Berichten über jene dramatischen Tage notiert Wildbolz nach seiner Ernennung: «In Bern, wo noch nie Ruhestörungen stattgefunden haben, liegen die Verhältnisse anders als in der Industrie- und Fremdenstadt Zürich. Bern hat aber als Bundesstadt und Sitz der Streikleitung eine besondere Bedeutung.»


General Ulrich Wille im Hotel Bellevue. Foto: Schweizerisches Bundesarchiv

Das Bundeshaus war während den Streiktagen eine bewachte Festung.

Protest im Regen

Im Laufe des Freitags bietet Wildbolz von seinem Kommandoposten im heutigen Kulturzentrum Progr aus Berner Landsturmtruppen auf, die das Bundeshaus, das Bellevue und die Zeughäuser der Stadt militärisch sichern. Bern wird zur besetzten Stadt. Und es werden noch mehr Truppen kommen.

In Freiburg besammelt Oberst Roger de Diesbach gleichentags sein Regiment 7. General Wille beordert eigens eine französischsprachige, katholische Truppe in die reformierte Stadt Bern. Er gehorcht dabei einem Grundsatz, den er in seinem Memorial vom 4. November so formuliert: «In der ganzen Welt werden zur Verhinderung einer Revolte nur Truppen verwendet, in denen keine nahen Angehörigen und Freunde der Unruhestifter sein können.» 

Die Reihen des Freiburger Regiments sind durch die Grippe gelichtet, Hunderte liegen krank in Lazaretten. «Traurige Novembermobilisierung, eisige Bise, nach scheinbarer Beruhigung flammt die Grippe neu auf», notiert sich Militärarzt Henri Perrier. Der damalige Unteroffizier Pierre Barras hat 50 Jahre danach den Weg des Freiburger Regiments in einer Artikelserie in der Zeitung «La Liberté» rekapituliert. Kommandant de Diesbach warnt in seinem Tagesbefehl vor «revolutionären Ausschreitungen». Er übernimmt ungeprüft die Revolutionsthese der Generalität. 

Am Proteststreik vom Samstag sind am Morgen schon Streikposten mit roten Armbinden in der Stadt unterwegs. Sie ermahnen Restaurants und Einkaufsläden zum Einhalten des Streiks. Es ist ein Vorgeschmack auf die Totalsperre während des Generalstreiks.



Um 10 Uhr beginnt bei strömendem Regen eine Manifestation auf dem Waisenhausplatz, obwohl in der Stadt Bern wegen der Grippe eigentlich ein Versammlungsverbot gilt. Für Gemeinderäte wie Robert Grimm gilt es offenbar nicht. Er fordert in seiner Rede den Abzug der Truppen aus den Städten. Und er versichert: «Wir bekennen uns zur Revolution, sind aber keine Putschisten oder Anarchisten.» Grimm ist überzeugt, am Anbruch einer neuen Zeit zu stehen. Darin bestärkt ihn noch die brandaktuelle Nachricht, dass der deutsche Kaiser abtritt und in vielen deutschen Städten Revolutionen soeben ausgebrochen sind.

Karl Scheurer, FDP-Regierungsrat des Kantons Bern und späterer Bundesrat, ist weniger euphorisch. In sein Tagebuch schreibt er am Samstagabend nach dem Proteststreik: «Der Wirtschafts- und Magazinschluss wurde in der Stadt Bern mit Gewalt erzwungen.» Dabei habe ihm der Berner Gemeinderat die Aufrechterhaltung der Ruhe garantiert, ärgert er sich. «Der Regen dämpft die Wut ein wenig», beendet Scheurer seinen Eintrag.

Trotz Versammlungsverbot hielt der Arbeiterführer Robert Grimm Reden vor Publikum.

Scheiternde Verhandlungen

Am Sonntag, dem 10. November, telefoniert OAK-Chef Robert Grimm mit dem Bundesrat im Bellevue. Auch die Landesregierung logiert nun im abgeriegelten Luxushotel und muss sich dafür von der Arbeiterbewegung Spott anhören. Grimm will den Verhandlungsspielraum ausloten. Man  trifft sich im Bundeshaus. Grimm stellt den Bundesräten in Aussicht, weitere Streiks aufzuhalten. Und er warnt, die Zürcher Arbeiterschaft werde sich kaum abhalten lassen von der Feier der russische Revolution, diese finde auch bei einem Verbot statt, man solle sie also besser erlauben. 

Um 15 Uhr findet im Roten Saal des politischen Departements im Bundeshaus West ein zweites Treffen mit dem Bundesrat statt. Die Landesregierung bleibt nun hart und bricht die Verhandlungen mit dem OAK ab. Das Tischtuch zwischen Streik- und Landesführung ist endgültig zerschnitten. 

Am Nachmittag treffen bestürzende Nachrichten aus Zürich ein: Soldaten haben in der trotz Verbot erschienen Menge auf dem  Fraumünsterplatz in die Luft und auf den Boden geschossen. Drei Protestierende werden verletzt, ein junger Soldat stirbt unter ungeklärten Umständen. An der abendlichen Sitzung des OAK im Volkshaus machen die Zürcher nun Druck. Das OAK kann nicht mehr zurück und ruft einen unbefristeten Generalstreiks im ganzen Land ab Montag Mitternacht aus. Robert Grimm eilt wieder in die Unionsdruckerei. Für den Streikaufruf in der Tagwacht und auf Flugblättern kommen diesmal die ganz grossen Lettern zum Einsatz.

Adrian Zimmermann zur Rolle des Volkshauses während des Landesstreiks.

Bald sickert die Nachricht vom bevorstehenden Landesstreik durch. Noch in derselben Nacht lässt Platzkommandant Wildbolz in den Strassen seinen Aufruf an die Bevölkerung der Stadt Bern aushängen. Er appelliert, Ruhe zu bewahren und fordert zur «mutigen Selbsthilfe« auf. In anderen Schweizer Städten haben sich mit Unterstützung von Polizei und Armee schon Bürgerwehren gegen den Streik formiert. In seinem Bericht kritisiert Wildbolz «die bedauerlichen Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen» am Protestreik vom Samstag. Und er äussert sein Misstrauen in die roten Berner Stadtbehörden: «Die Stadtberner Polizeikraft reicht nicht aus.»

Berns Polizeidirektor Oskar Schneeberger ist nämlich wie seine SP-Parteikollegen Robert Grimm und Stadtpräsident Gustav Müller gleichzeitig Mitglied des Stadtberner Gemeinderats wie auch der Streikführung. Die Bundesstadt hat damals die erste rote Mehrheit der Geschichte, 1918 hat die SP  im Stadtparlament 42 von 80 Sitzen,und im Gemeinderat fünf der neun Sitze inne. 

Freiburger Einmarsch

«An das arbeitende Volk der Schweiz», überschreibt die Tagwacht am Montag Morgen den Streikaufruf pathetisch. Neun Reformforderungen an den Bundesrat werden genannt, die nicht alle ganz neu sind. Die sofortige Einführung des Proporzwahlrechts, des Frauenstimmrechts oder der AHV haben auch liberale bürgerliche Kräfte schon gefordert. In den belebten Strassen der Stadt Bern sind wieder Streikposten unterwegs und fordern Läden und Gastlokale, ab Dienstag zu schliessen und ihre Schaufenster zu verhüllen.

Gegen Abend setzt Kommandant Wildbolz die Freiburger Truppen in Bümpliz in Bewegung. Pierre Barras erinnert sich, dass sie bei eisiger Bise um 19 Uhr «in die dunkle und tote Stadt Bern mit ihren verhüllten Schaufenstern» einmarschieren. Gerüchte, eine Kampffront von Arbeitern stelle sich ihnen entgegen, bewahrheiten sich zum Glück nicht. Die Soldaten atmen auf und installieren sich mit ihrem Gerät und Maschinengewehren auf dem Waisenhausplatz ein, auf dem eben erst Robert Grimm gesprochen hat. 

Regierungsrat Scheurer sitzt um diese Zeit immer noch im Berner Rathaus, ermüdet von der ganztätigen Regierungssitzung. Abends ruft die Kantonspolizei ins Rathaus an, der Generalstab der Armee wolle die Streikführer verhaften. Auch wenn Scheurer den Sozialisten misstraut, lehnt er das Ansinnen ab. In sein Tagebuch schreibt er: «Ich sage, dass wir das als schweren Fehler ansehen würden. Erst muss eine greifbare Gesetzesverletzung vorliegen. Die Zivilgewalt, nicht der Generalstab ist Herr darüber.»

Scheurer erfährt in einer Sitzungspause, dass an den Weltkriegsfronten endlich ein Waffenstillstand beschlossen worden ist.  «Wie hatten wir geglaubt, diesen Tag zu begehen. Nun haben wir fast Krieg. Es ist, wie wenn alle Welt verrückt wäre», notiert er in sein Tagebuch. In der Nacht vor dem ersten Generalstreik im Land bleibt Scheurer gleich im Rathaus und fällt auf einer Matratze in einen unruhigen Schlaf.

Diese Zeitung erzählt jeden der dramatischen Streiktage jeweils genau 100 Jahre danach in einer mehrteiligen Serie nach. Sie stützt sich dabei auf die Kenntnisse des Berner Historikers Adrian Zimmermann, auf die damals erschienene Ausgaben von vier Berner Tageszeitungen, auf das Buch «Dokumente zum Landesstreik« des Historikers Willi Gautschi, auf Adolf McCarthys Biografie über seinen Schwiegervater, den Arbeiterführer Robert Grimm, sowie auf Pierre Barras 1968 publizierte Erinnerungen an den Weg der Freiburger Truppen, die 1918 Bern besetzten.

Text/Interviews: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv / Beat Mathys
Videos: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann

Text/Interviews: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv / Beat Mathys
Videos: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann

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