Als das Militär die Unionsdruckerei eroberte

Streikführer Robert Grimm war der Hausherr in den Druckereiräumen.

In den Streiktagen erschien nur noch die linke Berner Tagwacht.

Es ist noch stockdunkel, als sich die Freiburger Besatzungssoldaten am Morgen des zweiten Streiktags, dem 13. November 1918, in den Fluren des Burgerspitals aus dem Stroh erheben. Um halb drei Uhr in der Früh ist ihr Kommandant Roger de Diesbach zu General Ulrich Wille ins Bundeshaus gerufen worden, um einen Spezialbefehl entgegenzunehmen. Diesbachs Soldaten sollen noch vor Tagesanbruch die Unionsdruckerei an der Kapellenstrasse 6 militärisch besetzen. 

Redaktion unter Kontrolle

Die Besetzung einer Druckerei kommt den Soldaten komisch vor. Sie erfahren, dass das Gebäude im Monbijouquartier auch die Sitze der Gewerkschaften beherbergt. Überdies befindet sich dort die Streikzentrale, wo das Oltner Aktionskomitee tagt.

Dass die Unionsdruckerei zum militärischen Ziel wird, hat noch einen weiteren Grund. In den Streiktagen stehen die Druckmaschinen der bürgerlichen Tageszeitungen still. Nur noch die linke «Berner Tagwacht» erscheint. Das SP-Parteiblatt hat deshalb in der Bundesstadt die publizistische Deutungshoheit inne. Das ärgert die bürgerlichen Parteien im Bundeshaus und im Rathaus. Der Einsatzbefehl gegen die «Tagwacht» geniesst deshalb breite politische Unterstützung.

Die Freiburger Soldaten haben zuerst Mühe, die Kapellenstrasse zu finden. Der damalige Unteroffizier Pierre Barras erzählt in seinen Erinnerungen, der Berner Polizist, der sie begleitete, habe sich plötzlich nicht mehr an die Adresse erinnern wollen. Die Soldaten fangen dann einen Streikkurier auf dem Velo ab und bringen ihn zum Reden. Sie umstellen das Druckereigebäude und durchsuchen es Etage für Etage. Schliesslich drücken sie die blockierte Tür zur «Tagwacht»-Redaktion auf. Die Räume sind ausgestorben, Dokumente sind verbrannt worden, die Telefone funktionieren nicht. Die «Tagwacht»-Macher haben offenbar eine Besetzung erwartet und Vorkehrungen getroffen.

In ihrer Ausgabe vom 20. November 1918 blickt die Zeitung unter dem süffisanten Titel «Die Eroberung der Tagwacht» belustigt zurück auf den Mittwochmorgen. Das Druckereipersonal habe in Reih und Glied einstehen müssen. «Wir schauten dem Theater gemächlich zu. Die Soldaten besetzten die Maschinensäle und Setzerräume und schlugen ihren Wigwam auch im Metallarbeiterbüro auf», schreibt der «Tagwacht»-Autor.

In der Unionsdruckerei an der Kapellenstrasse befand sich auch die Streikzentrale.

Powerplay mit Bundesräten

Im Bundeshaus nimmt am Morgen die schon am Vortag eröffnete ausserordentliche Bundesversammlung wieder die Arbeit auf. Streikführer und SP-Nationalrat Robert Grimm trifft im Bundeshaus ein und lotet in einem Vorzimmer neben dem Nationalratssaal mit den Bundesräten Gustave Ador (FDP, Genf) und Giuseppe Motta (CVP, Tessin) letzte Kompromissmöglichkeiten aus. Er fragt die Bundesräte, was passiere, wenn er den Streik nicht abbreche. Ist die Aufforderung zum Abbruch eine Einladung oder ein Ultimatum? «Ein Ultimatum», bestätigen die Bundesräte. Grimm begreift, dass ihm die Verhaftung droht. 

Die Bundesräte warnen ihn nun, sie hätten zuverlässige Informationen der Weltkriegs-Siegermächte Frankreich und Italien, dass eine revolutionäre Erhebung in der Schweiz nicht geduldet und militärisch beendet würde. «Das bedeutet Bürgerkrieg», erwidert Grimm. Er spielt das rhetorische Powerplay mit Drohkulissen mit, obwohl er um die Chancenlosigkeit eines Arbeiteraufstands gegen die Armee weiss. «Die Arbeiterklasse wird triumphieren oder im Kampf untergehen», ruft er den Bundesräten zu und stürmt davon in den Nationalratsaal.

Grimms rhetorischer Angriff

Dort steht Grimms Auftritt am Rednerpult an. Weil der Nationalrat damals noch nach dem Majorzwahlrecht besetzt wird, ist die SP dort trotz ihres Wähleranteils von über 20 Prozent nur mit einigen wenigen Nationalräten vertreten. Diese werden immer überstimmt. Grimm spricht in seiner Rede nicht als SP-Vertreter, er gibt sich als Vertreter des Proletariats und greift gleich die ganze bürgerliche Klasse an. Kraftvoll und selbstbewusst erklärt er im Saal, dass man am Anbeginn einer neuen Zeit stehe. Das Bürgertum werde «unter dem Zwang der historischen Entwicklung bald abtreten», behauptet er. Kein bürgerlicher Abgeordneter im Saal nimmt die Drohung ernst.

«Das Bürgertum wird unter dem Zwang der historischen Entwicklung bald abtreten.»

Der Bundesrat erlässt an die Streikführer das Ultimatum, den Generalstreik bis um Mitternacht abzubrechen. Grimm und seine Mitstreiter eilen zurück in die Unionsdruckerei zur Beratung, wo sie die Soldaten wieder einlassen. In den Strassen mischen sich Soldaten und Passanten. Streikende sieht man kaum, sie stehen vor den Fabriktoren und kontrollieren die Einhaltung der Arbeitsniederlegung. Die Streikführung hat sie eigens vor der Konfrontation mit Soldaten gewarnt. Die «Tagwacht» fordert die Streikenden gar auf, ausserhalb der Innenstadt unauffällig auf den Strassen zu spazieren, statt sichtbar zu demonstrieren. 

Militär und Passanten mischen sich vor dem Burgerspital.

Militär und Passanten mischen sich vor dem Burgerspital.

Streiküberdruss in Dörfern

Am Nachmittag fährt FDP-Regierungsrat Karl Scheurer in verdeckter Mission aufs Land. «Bei kalter Bise und schönem Wetter» bricht er vor dem Rathaus in einem Auto auf, eskortiert von zwei Soldaten und einem Polizisten. Sie touren von Bern über Laupen, Ins, Nidau, Biel nach Lyss und wieder zurück nach Bern. Bei den Zwischenstopps trifft Scheurer Gemeindever­treter, Pfarrer und Lehrer, mit denen er «den Widerstand organisieren» will. Es geht um die Formierung von Bürgerwehren.

«Ich konnte sie ermahnen, sich selber zu helfen und die Truppen zu unterstützen», schreibt Scheurer in sein Tagebuch. Er beklagt aber auch, dass er überall Gejammer über das unterbrochene Telefonnetz höre. Der Streiküberdruss sei gross auf dem Land. 

Tatsächlich konzentriert sich der Streik auf die Städte und grössere Industrieorte wie Lyss. In den Dörfern, wo die bäuerliche Bevölkerung weniger an der Lebensmittelknappheit und Teuerung leidet, stösst der Streik auf einhellige Ablehnung. Abends um acht Uhr ist Scheurer wieder in Bern. 

Eine lange Nachtsitzung

Auf 21 Uhr beruft Robert Grimm die Mitglieder des Oltner Aktionskomitees (OAK) in die Unionsdruckerei, um über den ultimativ geforderten Streikbabbruch zu diskutieren. Die Soldaten ziehen sich zwar aus dem Sitzungsraum zurück, bleiben aber im Haus. Trotz Protest des OAK schalten sie die Telefonverbindungen nicht wieder ein.

Im OAK ist man sich nicht einig. Grimm gehört zur Fraktion derjenigen, die den Streik fortsetzen wollen und einen Abbruch als Kapitulation ansehen. Welsche Vertreter sind angesichts der militärischen Übermacht der Armee und der ausbleibenden Lebensmittellieferungen in den Städten der Romandie für einen Abbruch. Vor Mitternacht geht eine OAK-Delegation ohne Grimm noch einmal ins Bundeshaus und fragt, ob der Bundesrat bei den Forderungen des Streikkomitees zu Konzessionen bereit sei. Ohne Erfolg.

Zur gleichen Zeit ist Robert Grimm endlich wieder einmal zu Hause in seiner Wohnung an der Brückfeldstrasse 27 im Länggassquartier. Er lebt dort mit seiner jungen Frau Jenny Kuhn in der Dachwohnung des Hauses von Hermann und Margrit Rupf. Grimm ist mit dem Geschäftsinhaber- und Kunstsammlerpaar befreundet. Die frische Liebe zu seiner fünfzehn Jahre jüngeren Frau treibt ihn an. Er diskutiert mit ihr die Alternativen Kapitulation oder Bürgerkrieg. Jenny Kuhn ist gegen ein Blutvergiessen. Grimm eilt wieder zurück in die Unionsdruckerei.

Grimms Sorge ums Image

Erst nach Mitternacht, um 2.30 Uhr, setzt sich bei der Abstimmung des OAK die moderate Mehrheit durch. Der Abbruch des Streiks wird auf Mitternacht des schon angebrochenen Donnerstags, 14. November, angesetzt. Ein Protokoll der Sitzung existiert nicht, wer wie gestimmt hat, weiss man nicht.

Als Realist, der um die Chancenlosigkeit der unbewaffneten Arbeiterschaft wusste, lässt sich Robert Grimm bewusst von der Mehrheit überstimmen. Obwohl er gegen einen Streikabbruch ist. Der Kapitulationsdelegation, die dem Bundesrat noch in der Nacht den Abbruchentscheid mitteilt, gehört Grimm nicht an. Um seinen Stolz und sein Image als Arbeiterführer zu wahren, vermeidet er, dem Feind die Niederlage einzugestehen. 

Den wachhabenden Freiburger Soldaten in der Unionsdruckerei sind Robert Grimms innere Kämpfe egal. Sie sind froh, dass sie nach dem Ende der OAK-Sitzung endlich in ihre Unterkunft im Burgerspital zurückkehren können.

Diese Zeitung rapportiert die Berner Ereignisse des Landesstreiks auf den Tag genau hundert Jahre danach. Nächste Serienfolge: Wie um die Streikabbrucherklärung gerungen wird und die Soldaten an der Grippe sterben.

Text/Interview: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Sozialarchiv / Burgerbibliothek Bern /
Nationalbibliothek / Beat Mathys
Video: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann



Militärpatrouille auf der Grossen Schanze über den Geleisen des Bahnhofs.

Text/Interview: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Sozialarchiv / Burgerbibliothek Bern /
Nationalbibliothek / Beat Mathys
Video: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann



Militärpatrouille auf der Grossen Schanze über den Geleisen des Bahnhofs.

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