Machtprobe zwischen Bürgertum und Arbeitern

Der 12. November war der erste Tag des Landesstreiks 1918.

250'000 Streikende legten im ganzen Land Bahn, Post und die meisten Unternehmen lahm.

Der Bundesrat gab Gegensteuer und stockte den Truppenbestand für die Bewachung der grösseren Schweizer Städte auf 95'000 Mann auf.

Nach knapp sechs Stunden Schlaf erwacht FDP-Regierungsrat Karl Scheurer am Morgen des 12. November 1918 auf seiner Matratze in einem Büro des Berner Rathauses. Er horcht hinaus in die Stadt und realisiert gemäss seinem Tagebuch: «Es ist vollkommen ruhig.» So also hört sich der grosse Streik an.

Fast alles steht in Bern still. Scheurer eilt an die Morgensitzung des Regierungsrats. Am ersten Tag der nationalen Arbeitsniederlegung gibt es nur ein einziges Traktandum: den Streik. Aber die Kantonsregierung ist schlecht informiert über das, was draussen in der Stadt und auf dem Land läuft. Denn die Postzustellung ist eingestellt, die Telefonleitungen sind zeitweise unterbrochen.

News und Gerüchte

Nur tröpfchenweise erhalten die Regierungsräte Informationen: Die Arbeit ruht in den meisten Berner Unternehmen. Nur die Angestellten der Stadtwerke für Strom und Gas sind im Einsatz, die Eisen- und Strassenbahnen fahren nicht. Etwas später schreckt eine neue Nachricht die Regierung auf: Ein Armeebataillon soll in Biel zu den Streikenden übergelaufen sein. Aber die Meldung erweist sich als falsch. Weil die Kommunikation behindert ist, schiessen die Gerüchte nur so ins Kraut.

Die Dienstagausgabe des «Berner Tagblatts» und des «Intelligenzblatts» erscheinen nicht, weil ihre Druckereien bestreikt werden. Gedruckt werden nur die linke «Berner Tagwacht» und der bürgerliche «Bund», der den Streikführern vorwirft, sie hätten vor Lenins Bolschewisten kapituliert und «Recht und Verfassung mit einem Gewaltstreich über den Haufen geworfen».

Keiner der 250'000 Streikenden im ganzen Land trägt allerdings eine Waffe.

Die «Tagwacht» rühmt unter dem stolzen Titel «Alle Räder stehen still» die kühne Arbeiterschaft, die unbeirrt für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfe. 

Patriotisches Happening

Seit 6 Uhr früh patrouillieren die nach Bern beorderten Besatzungssoldaten aus Freiburg in den wenig belebten Berner Strassen. Restaurants und Läden sind geschlossen, deren Schaufenster verhüllt. Im Laufe des Morgens besetzen die Soldaten den Bundesplatz. Denn um 11 Uhr beginnt im Bundeshaus eine ausserordentliche Bundesversammlung von National- und Ständerat, die während der ganzen drei Streiktage andauern wird.

Zur Begrüssung der eintreffenden Parlamentarier marschieren die Freiburger mit ihrer Militärmusik auf dem Bundesplatz auf. Dort intonieren sie ihren populären Alpaufzugsgesang «Ranz des vaches». Schaulustige umringen friedlich die Soldaten und singen bald mit. Es ist ein patriotischer Schulterschluss. In der unsicheren Gegenwart, in der gerade Kaiserreiche zusammen- und Revolutionen ausbrechen, nährt der Generalstreik eine verständliche Angst vor Aufständen und einem Bürgerkrieg in der Schweiz.

Viele Bernerinnen und Berner sind deshalb erleichtert über die Armeepräsenz.

Gegenfront im Bundeshaus

Regierungsrat Scheurer, der für die FDP auch im Nationalrat sitzt, eilt jetzt vom Rathaus ins Bundeshaus. Parlamentarier aus der ganzen Schweiz tauchen auf. «Sie kommen auf allen möglichen Wegen, Vorsichtige kamen schon am Vortag», hält Scheurer in seinem Tagebuch fest. Die Streikführer, unter ihnen Robert Grimm, betreten ebenfalls das Bundeshaus, denn sie sitzen für die SP im Nationalrat. Auf der Zuschauertribüne des Nationalratssaals fallen Scheurer Streikende auf. Das Bundeshaus bleibt trotz militärischer Besetzung zugänglich. Und die Strassen der Stadt sind in den Streiktagen belebt von vielen Neugierigen, bewaffnete Soldaten und Passanten mischen sich. 

Der Bundesrat versteht die ausserordentliche Bundesversammlung als eine Art Gegen­veranstaltung zum Streik. Im Nationalratssaal demonstriert er bürgerliche Einigkeit gegen die Aufrührer. Zwar kündigt der Bündner Bundespräsident Felix Calonder (FDP) an, die von der Sozialdemokratischen Partei mit einer Initiative erstrittene Proporzwahl des Nationalrats bald umzusetzen. Er spricht auch vorsichtig von einer Regierungsbeteiligung der Linken. Gegenüber dem Streikkomitee aber bleibt Calonder kompromisslos. Er warnt vor «bolschewistischem Terror» und einem Putsch in der Schweiz.

Die Bundesversammlung beschliesst denn auch folgerichtig eine zusätzliche Mobilisierung von Truppen. 95'000 Mann besetzen bald alle bestreikten Städte im Land. Das ist ein Drittel des Armeebestandes. An den Landesgrenzen stehen nur noch 15'000 Mann. Allein Bern wird von 12'000 Soldaten bewacht. Am Mittag erlässt der Bundesrat an Robert Grimm die ultimative Aufforderung, den Streik mit einer schriftlichen Erklärung abzubrechen. Treffe diese nicht ein, betrachte man dies als Weigerung.

Spiessrutenlauf am Bahnhof

Am Nachmittag manifestiert sich der vorher im Bundeshaus aufgeheizte Zorn auf die Bolschewisten in einer handgreiflichen Aktion. Schon am 8. November hat der Bundesrat auf Druck der alliierten Siegermächte Frankreich und Italien den Kontakt mit der provisorischen sowjetischen Botschaft in Bern abgebrochen und diese zum Verlassen des Landes «eingeladen». Jetzt erhält der Freiburger Kommandant Roger de Diesbach den Befehl, das russische Botschaftspersonal um 13 Uhr im Erstklasswartsaal des Berner Bahnhofs zu besammeln und dann mit einem Konvoi aus der Schweiz auszuschaffen.

Die etwa 35 Personen lassen sich Zeit. Erst gegen 14 Uhr sind sie mitsamt Gepäck und Aktenkoffern endlich alle besammelt. Unter ihnen ist die russische Politikerin und Publizistin Angelica Balabanow. Sie ist damals ein Star der internationalen Linken. In der Schweizer Presse wird sie als Feindbild und bolschewistische Agitatorin diffamiert. Das Eintreffen international bekannter Russinnen und Russen spricht sich in Bern schnell herum und löst einen Volksauflauf aus. Die Freiburger Soldaten müssen den ganzen Bubenbergplatz absperren. 

Angelica Balabanow kommt der Weg zum Bahnhof wie ein Spiessrutenlauf vor. In ihren Erinnerungen schreibt sie: «Als wir zum Bahnhof marschierten, richteten sich aller Augen auf uns. Hände und Stöcke wurden geschwungen, höhnende Worte klangen uns nach. Besonders aktiv waren die Frauen, ihr Hass- und Rachegefühl machte sie unwiderstehlich lächerlich, Hyänen waren es, aber ohnmächtige Hyänen.» Balabanow beschwert sich bei Kommandant de Diesbach über Handgreiflichkeiten, bei denen ihr Handgelenk verletzt wurde. Der Freiburger Kommandant erzählt später, dass ihn der feurige Blick der attraktiven Revolutionärin verwirrt habe. Aber er bleibt standhaft. 


Der Konvoi zur Ausschaffung der Sowjetdiplomaten wird am Berner Bahnhof beladen.

Am Milchgässli wurden am ersten Streiktag rund 30 Mitglieder der sowjetischen Botschaft auf Lastwagen geladen und ausgeschafft.

Irrfahrt durch die Schweiz

Im Wartsaal hält de Diesbach vor dem versammelten Botschaftspersonal eine scharfe Ansprache und droht, bei Provokationen und Fluchtversuchen während der Ausschaffung von der Waffe Gebrauch zu machen. Botschaftsleiter Jean Berzine ist empört und will sich nicht de Diesbachs Befehlen unterordnen. Beim anwesenden Diplomaten Walter Thurnher vom Politischen Departement des Bundes deponiert er einen Protest.

Thurnher rät de Diesbach, sich zurückzuziehen, um den Aufruhr im Wartsaal zu beruhigen. Der Diplomat versichert dem russischen Botschaftsleiter Berzine, er müsse nur Weisungen des Politischen Departements entgegennehmen. Der Bund lässt auch zu, dass die Sowjetbürger ihre Akten unkon­trolliert mitnehmen können. Konservative Kritiker sind überzeugt, dass die Schweiz so zugelassen habe, dass die Russen ihre Putschpläne für die Schweiz nach Hause schmuggeln konnten. In den Archiven sind allerdings bis heute nie solche Pläne aufgetaucht. 

Weil der Streik den Bahnverkehr lahmlegt, müssen die 35 Russinnen und Russen im damaligen Milchgässlein zwischen Burgerspital und Bahnhofgebäude auf mehrere klapprige und baufällige Militärlastwagen aufsteigen. 35 Freiburger Soldaten fahren als Geleitschutz mit.

Anderthalb Tage werden sie mit bloss einer einzigen Landkarte auf einer Irrfahrt durch die verdunkelte Schweiz unterwegs sein und alle Städte umgehen, um allfällige Solidarisierungen mit Streikenden zu verhindern. In Kreuzlingen wird das Botschaftspersonal dann nach zähen Verhandlungen den deutschen Behörden übergeben.

Die Schulanlage Spitalacker ist in den Streiktagen die Unterkunft der Freiburger Truppen.

Die Schulanlage Spitalacker ist in den Streiktagen die Unterkunft der Freiburger Truppen.

«Sie schreien nach Militär»

Regierungsrat Karl Scheurer schreibt nach dem Sitzungsmarathon des ersten Streiktags in sein Tagebuch: «Am Abend komme ich heim, ohne etwas getan zu haben. Bis jetzt ist der Handel nicht übel gegangen.» Es ist tatsächlich alles friedlich geblieben in Bern.

Scheurer beklagt allerdings: «Man hat den Eindruck, dass die Leute sich nicht selber helfen wollen. Sie schreien nach Militär in Koppigen, Oberburg, Langenthal und Thun.» Der Regierungsrat dürfte darauf anspielen, dass sich in Zürich, Basel oder Genf anders als in Bern Bürgerwehren gegen die Streikenden formiert haben.

Die Lage in Berns Gassen bleibt angespannt. Der Zorn der Arbeiterschaft über Teuerung, Lebensmittelknappheit und tiefe Löhne trifft auf die bürgerliche Aversion gegen die linke Gefährdung von Recht und Ordnung. Ein paarmal greifen die Freiburger Soldaten bei Wortwechseln ein und verhaften forsche Prügler. Im Laufe der Nacht kehren sie in ihre Unterkünfte zurück: ins Schulhaus Spitalacker im Breitenrainquartier und ins Burgerspital, wo sie auf blossem Stroh in den kalten Fluren liegen.

Diese Zeitung rapportiert die Berner Ereignisse des Landesstreiks auf den Tag genau hundert Jahre danach. Nächste Serienfolge: Wie am zweiten Streiktag Soldaten die Redaktion der «Tagwacht» besetzen und sich die Führung zum Streikabbruch durchringt.

Text/Interview: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv / Beat Mathys / Pierre Barras
Video: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann

Text/Interview: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv / Beat Mathys / Pierre Barras
Video: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann

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