Die Grippe hat im Strohlager des Burgerspitals leichtes Spiel

Auch der Kursaal in Bern wird zum Grippe-Notspital umfunktioniert

Am letzten Streiktag gehen bei einer Schienenblockade in Biel die Emotionen hoch

In den Gängen des Burgerspitals lässt die Anspannung unter den Freiburger Soldaten nach, als sie bei der Tagwache am 14. November 1918 vernehmen, dass der Streik am Abend beendet wird. Die grosse Sorge der Soldaten, die die Bundesstadt bewachen, bleibt aber die Grippepandemie. Auch an diesem Donnerstagmorgen haben sich beim Appell im Burgerspital die Reihen abermals gelichtet. Wieder sind Soldaten neu erkrankt.

Seit sie am Montag im Burgerspital eingerückt sind, sind hier drei Soldaten gestorben. Das hochansteckende Virus hat im bisweilen gefaulten Stroh in den Militärunterkünften leichtes Spiel. Eine Bronchial-Pneumonie schwächt die Soldaten. Der Körper der Verstorbenen verfärbt sich blau und schwarz.

Freiburger Besatzungssoldaten lagen im Flur des Berner Burgerspitals auf blossem Stroh.

Schulhäuser als Notspitäler

Der 17-jährige Berner Schüler Hugo von Bergen – der Grossvater des hier berichtenden Autors – erzählt Anfang Dezember 1918 in einem Schulaufsatz, dass seine Herbstferien im Seminar Hofwil «wegen der Grippeansteckungsgefahr auf unbestimmte Zeit verlängert wurden». Das Seminar, in dem von Bergen zur Schule gehen sollte, wird zum Notspital umfunktioniert. Bett an Bett mit Grippekranken steht in den Schulzimmern. Von Bergens Vater, Lehrer im ebenfalls mit Kranken belegten Brunnmattschulhaus, bietet seinen untätigen Sohn in den Streiktagen als Helfer auf. «Mit einer Schutzmaske bewaffnet», bewacht der junge Mann im «Delirantenzimmer» gar einen Sterbenden.

Aus Truppenunterkünften werden in Bern Lazarette. Am Ende ihrer Berner Besatzung sind 900 der 2000 Soldaten des Freiburger Regiments an der Grippe erkrankt. Der damalige Unteroffizier Pierre Barras berichtet in seinen Erinnerungen von «langen Kolonnen von Sanitätsfahrzeugen, die immer neue Kranke bringen oder verlegen». Bis zu 200 Krankheitseintritte gibt es in den Lazaretten pro Tag. Allein das Notspital in der Berner Kaserne zählt 1000 Betten.

Grippekranke in Bieler Schulzimmer.

Grippekranke in Bieler Schulzimmer.

Wer verschuldet die Toten?

Der Berner Platzkommandant Eduard Wildbolz zählt in seinen Berichten die «Grippe-Krankendepots» in Stadt und Kanton Bern auf. In Bern sind das die Kaserne, der Kursaal Schänzli, das Brunnmattschulhaus, das Spitalackerschulhaus, das Breitfeldschulhaus, das Victoriaspital und das Seminar Muristalden. Hinzu kommen ausserhalb von Bern das Seminar Hofwil, die Kaserne Thun, die Pension Itten in Thun, der Spiezerhof in Spiez und das Krankendepot Burgdorf. 2500 Personen sind Mitte November in Bern wegen der Grippe hospitalisiert.

158 Soldaten und Pflegepersonen sterben allein auf dem Platz Bern. Wildbolz vermerkt, dass im Landesstreik «zwar in Bern kein Blut geflossen» sei, dafür habe aber «die perfide Krankheit Opfer gefordert». 24'000 Menschen sterben in der Schweiz an der Spanischen Grippe, allein 900 Tote fordert die Novembermobilisierung in der Armee.

Diese hohe Zahl löst eine Schuldzuweisungsdebatte aus. Armeespitze und bürgerliche Parteien machen das Oltener Aktionskomitee mit Streikführer Robert Grimm persönlich für die Toten verantwortlich. Mit ihrem Streik hätten sie die Unterbringung von Soldaten in engen Unterkünften nötig gemacht. Grimm und seine Mitstreiter ihrerseits werfen Bundesrat und Armeespitze die «unnötige Truppenmobilisierung» und die unhygienische Einquartierung der Soldaten vor. Die an der Grippe verstorbenen Soldaten werden wie Helden bestattet. «Mort au service du pays» steht auf der Kranzbinde für die in Bern verstorbenen Freiburger Soldaten.


Wache vor Sarg mit Grippeopfer im Burgerspital.

Seilziehen um Abbruchtext

Im Bundeshaus wird die Nachricht vom Streikabbruch mit Erleichterung aufgenommen. Aber noch liegt der offizielle Text des Oltener Aktionskomitees zur Beendigung des Streiks nicht vor. Um das Dokument entspinnt sich ein zähes Seilziehen. Der Bundesrat drängt das Oltener Aktionskomitee, das in der Unionsdruckerei immer noch unter der Kontrolle der Freiburger Soldaten gefangen sitzt.

Robert Grimm und die Streikführer versuchen auch nach dem schon beschlossenen Streikende beim Bundesrat noch Konzes­sionen herauszuholen, um ihre Niederlage in ein besseres Licht zu rücken. Die Wiederherstellung der Telefonleitungen in der Unionsdruckerei wird ihnen gewährt, der Abzug der militärischen Wachen aber abgelehnt. Der Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg persönlich macht nun Druck. Am Nachmittag erscheint er samt Eskorte in den Räumen der «Tagwacht»-Redaktion, in denen vier Jahr zuvor Russlands Revolutionsführer Lenin dem Schweizer Arbeiterführer Robert Grimm seine Aufwartung gemacht hat.

Bundesrat Edmund Schult­hess (FDP, Aargau) erkundigt sich am Telefon nach dem Streikabbruchtext. Streikführer Konrad Ilg druckst erst herum, dann zieht er den Entwurf aus der Tasche und liest ihn am Telefon in Anwesenheit des Generalstabschefs vor. Der Offizier und der Bundesrat am anderen Ende der Telefonleitung sind konsterniert. Im Text, der mit Klassenkampfvokabular gespickt ist, drohen die Streikführer weitere Streiks an und stellen Forderungen. Der Generalstabschef würde die Streikführer am liebsten verhaften, aber der Bundesrat bestellt ihn wieder ins Bundeshaus. Erst gegen Abend temperieren die Streikführer ihren Text zur Zufriedenheit des Bundesrats ab. Wie zur Belohnung werden Grimm und seine Mitstreiter nicht verhaftet. Um 18 Uhr wird gar die Besetzung der Unionsdruckerei aufgehoben.

Schienenblockade vor Biel

Noch dauert der Streik an, erst um Mitternacht soll er beendet sein. Vielerorts sind die lokalen Streikkommandos trotz oder gerade wegen der Abbruchankündigung entschlossener denn je. «Beim Platzkommando Thun musste eine gewisse Aufregung und Neigung zur Scharfmacherei in richtige Bahnen geleitet werden», schreibt der Berner Kommandant Eduard Wildbolz in seinen Streikberichten. Die Direktion der Militärwerkstätte Thun will allzu heftig gegen unbeirrte Streikrädelsführer vorgehen.

In der Gewerbestadt Langenthal legt ein lokales Streikkommando die grossen Betriebe sogar bis am folgenden Freitag um 11 Uhr lahm. Weil das Elektrizitätswerk an der Aare in Wynau bestreikt wird und keinen Strom produziert, kann auch die Seidenweberei in Herzogenbuchsee die Arbeit noch nicht aufnehmen.

Weil die Eisenbahner streiken, steuert militärisches Hilfspersonal die Lokomotiven.

Weil die Eisenbahner streiken, steuert militärisches Hilfspersonal die Lokomotiven.

Die Eisenbahner sind besonders streikfreudig. Zwar fahren wieder erste Züge, aber sie müssen von militärischem Hilfspersonal bedient werden. Am Nachmittag fährt ein Zug aus dem Bahnhof Bern in Richtung Biel los, um zwei Nationalräte nach der ausserordentlichen Session in den Jura zurückzubringen. Drei Freiburger Soldaten sind als Eskorte an Bord. In Madretsch, vor der Einfahrt in den Bahnhof Biel, geht nichts mehr. Erregte Streikende haben mit Steinen und Holzschwellen die Schienen blockiert. Die Freiburger Soldaten werden nervös. Als einer von ihnen einen Schuss abgibt und damit einen Protestierenden verletzt, stürmen die Streikenden den Zug. Die zwei Nationalräte beschwören die Freiburger Soldaten, ja nicht mehr zu schiessen.

Noch einmal demonstrieren die Streikenden ihre Macht. Sie werfen den Aushilfslokführer, den sie als Verräter titulieren, unter den Zug und verletzen ihn. Die drei Freiburger Soldaten brüllen sie nieder und bespucken sie. Schliesslich lassen sie sie entkommen in die Obhut der Truppen, die den Bahnhof Biel bewachen. Diese schauen dem Spektakel von fern zu und trauen sich nicht einzugreifen. Der Zug muss nach Lyss zurückfahren. Die schlimmste Eskalation passiert am Nachmittag beim Bahnhof Grenchen-Nord, wo der lokale Militärkommandant auf Streikende schiessen lässt, unter denen sich auch Frauen und Kinder befinden. Drei Arbeiter bleiben tot liegen. Es sind die einzigen Toten im Generalstreik.

Die Truppen bleiben länger

Auch FDP-Regierungsrat Karl Scheurer erfährt am Nachmittag während der Regierungssitzung im Berner Rathaus vom rabiaten «Eisenbahnzwischenfall» vor Biel. «Am bösesten scheinen die Eisenbahner zu sein», schreibt er in sein Tagebuch. Scheurer berichtet seinen Regierungskollegen über seine Reise aufs Land vom Vortag. In Sachen Widerstand gegen den Streik sei er auf eine Mischung «von gutem Willen und Zaghaftigkeit» gestossen.

Das Regierungsgremium debattiert, ob die Besatzungstruppen Bern schon verlassen sollen. Erleichert erfahren sie, dass diese noch bleiben. In der ganz und gar bürgerlichen Kantonsregierung ist man laut Scheurer verärgert «über das zweideutige Verhalten der Stadtberner Gemeinderäte Robert Grimm, Gustav Müller und Oskar Schneeberger». Die drei SP-Politiker in der damals sozialdemokratisch dominierten Stadt Bern sind nämlich auch Mitglieder der Streikführung. Sie setzen die Polizei in den Streiktagen nur zurückhaltend ein. Man müsse zusammen mit der SP «die politischen Verhältnisse im Kanton in Ordnung bringen», fordert Scheurer.

In der letzten Streiknacht schläft er noch einmal auf seiner Büromatratze im Rathaus. «Hoffentlich zum letzten Mal», schreibt er in sein Tagebuch.

Diese Zeitung rapportiert die Berner Ereignisse des Landesstreiks auf den Tag genau 100 Jahre danach. Nächste und letzte Serienfolge: Wie sich Berns Zeitungen über die Streikbilanz streiten und Streikführer Robert Grimm verurteilt wird.

Text/Interview: Stefan von Bergen
Fotos: ETH-Archiv für Zeitgeschichte / Burgerbibliothek Bern / Schweizerischer Eisenbahnverband SEV / Beat Mathys
Video: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann


Ärzte und Pflegepersonal des Grippe-Notspitals im Berner Kursaal.

Text/Interview: Stefan von Bergen
Fotos: ETH-Archiv für Zeitgeschichte / Burgerbibliothek Bern / Schweizerischer Eisenbahnverband SEV / Beat Mathys
Video: Florine Schönmann
Umsetzung: Florine Schönmann


Ärzte und Pflegepersonal des Grippe-Notspitals im Berner Kursaal.

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