Unter Anklage: Die Streikführer vor dem Berner Amthaus

Entspannung nach Streikende: Kaffeetrinken vor dem Maschinengewehr

Die Besatzungssoldaten bleiben noch ein paar Tage in Bern

Als Regierungsrat Karl Scheurer (FDP) am Morgen des 15. November 1918 auf seiner Matratze im Berner Rathaus erwacht, realisiert er sogleich: Die Geräuschkulisse ist anders als in den lähmenden Vortagen. Die Strassenbahnen fahren wieder. Der Streik ist wirklich vorbei, im ganzen Land ist die Arbeit wieder aufgenommen worden. 

Kaum ist die Arbeitsniederlegung beendet, fordern ihre Gegner Vergeltung. Scheurer, der auch im Nationalrat sitzt, erhält entsprechende Nachrichten aus dem Bundeshaus. «Der Generalstab und General Ulrich Wille sind nur schwer zu bändigen. Sie wollen dreinfahren, sie verwechseln den Streik mit dem Krieg, wo man dem Gegner zuvorkommen muss. Sie wollen eingreifen, verhaften, verhindern – alles Dinge, die noch nicht am Platz sind», schreibt er im Tagebuch.

Zornige Zeitungsberichte

Die Truppen halten auch nach dem Abbruch des Streiks die Schweizer Städte besetzt. Und General Wille kann davon ausgehen, dass sie dort weiterhin willkommen sind. Das konservative «Berner Tagblatt» schreibt über die Freiburger Besatzungssoldaten: «Unsere Welschen verdienen besonderes Lob, ihre Truppen kamen mit Vergnügen nach Bern. Durch ihre feste Haltung gaben sie dem ganzen Land Zuversicht.» Die Freiburger Soldaten verlassen Bern erst am 20. November 1918, nach einer kurzen Abschiedszeremonie auf dem Bubenbergplatz vor dem Berner Platzkommandanten Eduard Wildbolz. 

Die Berner Tageszeitungen erscheinen nach dem streikbedingten Ausfall am Freitag wieder normal. Die bürgerlichen Blätter lassen nun ihrem Zorn, den sie drei Tage lang zurückhalten mussten, freien Lauf. Der «Bund» schreibt, der «übereilte und unsinnige Landesstreik» sei «eine Vergewaltigung und eine schwerste Versündigung gegen unsere Demokratie». Diese habe «die Kraftprobe des Umsturzes ruhmvoll bestanden». Das «Berner Intelligenzblatt» spricht von einer «katastrophalen Niederlage der sozialistischen Führer, die die Eigenart des Schweizer Volks und seinen freiheitlichen Instinkt falsch eingeschätzt haben».

Das «Berner Tagblatt» fordert Konsequenzen: «Wenn die bürgerlichen Parteien Berns besser organisiert wären, so müssten sie nun die sofortige Abberufung des sozialistischen Gemeinderates und Neuwahlen verlangen. Die Zwitterfiguren der Herren Grimm, Müller und Schneeberger würden bei einer Wahl ein grosses Fiasko erleben.» Bei den nächsten Stadtberner Wahlen erobern die Bürgerlichen 1919 zwar von den Sozialdemokraten die Mehrheit im Gemeinderat zurück, aber «die Herren Grimm, Müller und Schneeberger» werden wiedergewählt, obwohl sie in der Streikleitung sassen.

Nach dem Streik besammeln sich die Freiburger Besatzungssoldaten vor ihrer Heimkehr im Hirschengraben.

Nach dem Streik besammeln sich die Freiburger Besatzungssoldaten vor ihrer Heimkehr im Hirschengraben.

Zögerliche Reformen

Die linke «Berner Tagwacht» zieht eine ganz andere Bilanz des Streiks. «Der gewaltige Aufmarsch der Arbeiterschaft hat die herrschende Klasse aufs tiefste erschreckt und erschüttert», schreibt sie. In ihren Wochenendausgaben berichtet die linke Zeitung besorgt von Hausdurchsuchungen der Bundesanwaltschaft bei 30 Genossen. Empört vermeldet sie, in Lyss sei das Waffen- und Munitionslager einer Bürgerwehr entdeckt worden, die der dortige Eisenhändler und Gemeinderat Glaser am ersten Streiktag mit anderen Geschäftsleuten formiert habe. Die Kritiker, die eine Bestrafung der Streikenden und eine Absetzung der Stadtberner SP-Gemeinderäte fordern, sind für die «Tagwacht» «Spiessbürger».

Die gegensätzliche Einschätzung des Streiks in den Zeitungen widerspiegelt, dass die dramatische Machtprobe unmittelbar danach die politische und gesellschaftliche Spaltung des Landes eher noch verschärft. Von den Reformforderungen des Oltner Aktionskomitees werden einige erst Jahrzehnte später umgesetzt: die AHV 1948, das Frauenstimmrecht gar erst 1971. Der Berner «Bund» erkennt immerhin schon am Freitag nach dem Streik: «Nun wird ein anderer Kampf um eine neue Gesetzgebung und Reformen beginnen.»

Die bürgerliche Elite erkennt, dass Kooperation das Land besser voranbringt als Konfrontation. Schrittweise integrieren die Bürgerlichen das linke Lager ins Politsystem. Am 26. November 1919 wird der Nationalrat erstmals nach dem Proporzwahlrecht bestimmt, wie es die im Oktober 1918 angenommene SP-Initiative verlangte. Die bis jetzt untervertretene SP ist nun mit einem Stimmenanteil von über 23 Prozent hinter der FDP die zweitstärkste Partei.

Bis zu einer Regierungsbeteiligung der SP vergehen aber noch Jahre. Erst 1938 wird der erste Sozialdemokrat in den Regierungsrat des Kantons Bern gewählt. Es ist ausgerechnet der einstige Landesstreikführer Robert Grimm.

Aufruf zur Meuterei

Mit dem Ende des Streiks beginnt dessen Aufarbeitung. Am 20. Januar 1919 wird im Amthaus der Stadt Bern der Prozess des Militärgerichts gegen mehrere Streikführer, unter ihnen Robert Grimm, eröffnet. Das Gericht tut sich schwer mit einer Anklage. Der Prozess wird nach einer Intervention der Verteidigung gleich wieder vertagt. Die Kläger konzentrieren sich dann auf den Aufruf zum 24-stündigen Warnstreik vom Samstag, 9. November 1918, in dem das Oltner Aktionskomitee «Arbeiter im Wehrkleid» zur Befehlsverweigerung aufgefordert hat.

Die politischen Lager haben unterschiedliche Erwartungen in den Prozess. Die Konservativen fordern eine harte Strafjustiz gegen die linken Aufrührer. Die liberale Mehrheit aber will das nach dem Streik angespannte Klima in der Gesellschaft nicht noch verschärfen mit Urteilen, die die Arbeiterbewegung neu anstacheln könnten. Das linke Lager nützt den Prozess als Plattform. 

Am 17. März hält der Angeklagte Robert Grimm seine flammende Verteidigungsrede. «Wir bedauern, dass wir erst zur Androhung des Generalstreiks haben greifen müssen, um uns in der Demokratie Geltung verschaffen zu können», hebt er an. Bauern und Unternehmer müssten ihre Forderungen nicht mittels Streik durchsetzen, erklärt er dann angriffig, sie könnten einfach zum Bundesrat gehen und erklären: «Wenn ihr den und den Preis nicht bewilligt, bekommt ihr keine Milch.» Den Vorwurf des Verbrechens schickt Grimm an den Absender zurück: «Ich betrachte es als Verbrechen, wenn die Armee gegen streikende Arbeiter und gegen wehrloses Volk verwendet wird.»

Am 10. April 1919 ergeht das Urteil an Robert Grimm und weitere Streikführer. Grimm erhält wegen Aufrufs zur Meuterei die Mindeststrafe von 6 Monaten Gefängnis und eine Busse von 340 Franken und 30 Rappen. Sein Haftantritt beginnt am 7. Juli 1919 am Bahnhof Bern mit einem Happening, das die Stimmung in den Landesstreiktagen wieder aufleben lässt. Mehrere Tausend Leute empfangen Grimm und seine junge Frau Jenny Kuhn auf dem Bahnhofplatz. Grimm spricht zur Menge, die ihm dann bis auf den Bahnsteig folgt. «Hast du ein Retourbillett?», rufen sie ihm zu. Und: «Wenn es zu lange dauert, holen wir dich zurück.» Man muss Grimm noch einmal aus dem Zugabteil holen, damit er seine Anhänger überzeugt, ihre Schienenblockade mitten im Berner Bahnhof aufzugeben.

«Ich betrachte es als Verbrechen, wenn die Armee gegen streikende Arbeiter und wehrloses Volks verwendet wird.»

Milde Haft in Blankenburg

Der Zug fährt nach Blankenburg im Simmental, wo Grimm im dortigen Schloss inhaftiert wird. Die Berner Kantonsbehörden gehen pfleglich um mit ihrem prominenten Gefangenen. Der ebenfalls verurteilte Zürcher Streikführer Ernst Nobs, der 1943 als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt wird, muss im Kanton Zürich eine richtige Haftstrafe absitzen.

Robert Grimm aber baut im Winter in Blankenburg mit freundlichen Wärtern einen Schneemann, seine Frau Jenny kann ihn besuchen, an Lesestoff und Schreibzeug mangelt es ihm nicht. Er macht weite Spaziergänge. Erst als er das erlaubte Rayon verlässt und in einem Gasthof mit Gästen einen Jass klopft, schreiten die Behörden ein. Grimm muss nun im Schloss Blankenburg bleiben. Er nützt die freie Zeit und schreibt sein Hauptwerk «Die Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen».

Im Januar 1920 kehrt Robert Grimm aus dem Simmental nach Bern zurück. Zu seinen Ehren gibt es im Volkshaus an der Zeughausgasse einen grossen Empfang. Grimms Politlaufbahn erfährt durch den Landesstreik nur eine Verzögerung, aber keinen Knick. Von einem revolutionären Linkskurs aber wird er sich als Realpolitiker im Berner Regierungsrat zunehmend entfernen. 1946 wird der Führer des Landesstreiks, der alle Züge zum Stillstand brachte, sogar Direktor des Berner Bahnunternehmens BLS.


Robert Grimm (Mitte) baut mit freundlichen Wärtern in der Haft auf Schloss Blankenburg einen Schneemann.

Mit diesem Beitrag endet die Serie über die Berner Ereignisse des Landesstreiks genau 100 Jahre danach.

Text: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv / Biografie McCarthy / Burgerbibliothek Bern
Umsetzung: Florine Schönmann

Text: Stefan von Bergen
Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv / Biografie McCarthy / Burgerbibliothek Bern
Umsetzung: Florine Schönmann

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