C'est difficile

Wieso wir uns mit Französisch schwer tun - und wie es leichter ginge

Jugendliche haben wenig Lust, Französisch zu lernen. Was sich ändern soll – und welche Rolle dabei dem guten alten Welschlandjahr zukommt.

A1 nach Murten, dieselben Schilder, eine andere Sprache. Der Deutschschweizer Radiosender knistert, ich drehe am Knopf. Keine englischen Pop-Hits ertönen mehr aus den Boxen. Auch die Landschaft verändert sich, sie wird flacher, weiter, grosszügiger. Ganz kurz erhasche ich einen Blick auf den Neuenburgersee. Das Gefühl von Ferien, einem anderen Land – es fährt in dieser fremden, weiten Ecke der Schweiz mit.

Ich fahre von Bern nach Penthaz. Will wissen, was Jugendliche im zarten Alter von 15, 16 Jahren dazu bewegt, ein Jahr von daheim fortzugehen, um eine Sprache zu lernen. Französisch gehört in der Deutschschweiz zum alten Hut, Englisch hat der Landessprache längst den Rang abgelaufen. Neulich hat mich eine französisch sprechende Medienverantwortliche am Telefon begrüsst, meine Hände wurden feucht, mein Hirn begann zu rotieren. Ich wollte mir Mühe geben, der Person entgegenkommen – schliesslich habe ich neun Jahre Französischunterricht hinter mich gebracht.

Victoria im Welschland

Im Gegensatz zu mir unternimmt Victoria Graf etwas gegen ihre Sprachbarriere. Sie wuselt in der Küche umher, stellt Geschirr auf den Tisch und giesst den Kindern Wasser ein. Sie lebt und arbeitet als Au-pair in der Romandie, in Penthaz, einer 1700-Seelen-Gemeinde vor den Toren Lausannes. An drei Vormittagen besucht sie die Didac-Schule in der Waadtländer Hauptstadt, um ihr Französisch zu verbessern. Hauptsächlich kümmert sich Victoria Graf um Robin (7), seine Schwester Romane (4), schmeisst den Haushalt und spricht französisch.

Die hochgewachsene 16-Jährige schöpft das Mittagessen. Schon wird sie von Robin korrigiert. «Ce ne sont pas des pâtes, ce sont des pommes de terre», sagt er. Das sind keine Teigwaren, sondern Kartoffeln. Sie verdreht kurz die Augen, entschuldigt und korrigiert sich. Verständnis wieder hergestellt. Voilà.

Das Missverständnis in der Küche in Penthaz lässt sich auf die ganze Schweiz übertragen. Doch im Gegensatz zu Victoria Graf und Robin sprechen die verschiedenen Sprachregionen nicht miteinander. Sie stehen Rücken an Rücken. Es ist ein Neben- statt ein Miteinander. Ein Austausch über den Röstigraben findet kaum statt.


Quelle: Google Maps

Früher halfen Sprachaufenthalte, vor allem von Deutschschweizern in der Romandie, die Schweiz zusammenzuhalten. Bereits im 15. Jahrhundert wurden etwa Pagendienste an französischen Höfen oder Universitätsbesuche in anderen Ländern durchgeführt. Ab dem 17. Jahrhundert entwickelte sich ein Bildungstourismus, der bürgerliche Kreise in die Westschweiz zog.

Ein Popularisierungsschub erfolgte ab 1880, als sich das Volontariat für Dienstboten und Haushaltshilfen aus dem bäuerlichen Milieu und der Unterschicht etablierte. Bis Ende des 20. Jahrhunderts absolvierten Jahr für Jahr Tausende Deutschschweizer Jugendliche als «jeunes filles» und «jeunes hommes» ein Welschlandjahr, wie es im «Historischen Lexikon der Schweiz» genannt wird. Dieses Welschlandjahr war längst zur Schweizer Tradition geworden: Insbesondere junge Frauen – die «jeunes filles» – sollten Haushaltsführung und Kinderbetreuung lernen. Ihnen wurde teilweise harte Arbeit und schon früh viel Verantwortung aufgebürdet. Das Erlernen einer weiteren Landessprache war dabei ein willkommener Nebeneffekt.

Seit den 1980er- und 90er-Jahren nahm das Interesse am Welschlandjahr stetig ab, Sprachaufenthalte im englischen Sprachraum wurden umso populärer.

Ein Anbieter für Aufenthalte in beiden Sprachgebieten sind die Didac-Schulen. Bei ihnen werden die Gastfamilien von Gastfamilienberaterinnen vorab besucht, um die gemeinsamen Rechte und Pflichten zu besprechen. «Es ist uns wichtig, dass die Arbeitszeiten der Au-pairs eingehalten werden», sagt Alessia Palermo, Schulleiterin der Didac Lausanne. Die Gastfamilien und auch die Au-pairs unterschreiben zu Beginn des Jahres einen Vertrag, in dem die Arbeitszeiten und Verpflichtungen geregelt werden.



Doch gegen den fehlenden Austausch kommt auch Didac nur bedingt an. «Französisch hat in der Deutschschweiz an Popularität verloren, die Jugendlichen bekunden mit der Sprache teilweise Mühe im Unterricht», sagt Alessia Palermo. Auch die Mitarbeit im Haushalt und die Kinderbetreuung hätten etwas an Beliebtheit eingebüsst. Dafür würden sich immer mehr Jugendliche für ein Vollzeit-Schuljahr in einer Fremdsprache entscheiden.

Die Schule
Didac ist eine privatwirtschaftlich geführte Bildungsinstitution mit Schulen in Bern, Lausanne, Genf, Lugano und Eastbourne im Süden Englands. Didac Bern besteht seit 1907 und die Angebote der Sprachjahre seit 1984. Nebst Sprach- und Berufsvorbereitungsjahren engagiert sich die Institution auch als Gastfamilien-Vermittlungsagentur. Als eine der grösseren und ältesten Schulen der Schweiz bietet Didac drei Au-pair-Modelle an. Dabei variiert die Arbeitszeit bei den Gastfamilien zwischen 18 und 30 Stunden pro Woche. Wer weniger arbeitet, geht dafür mehr zur Schule. Die Kosten für das Schulgeld belaufen sich je nach Modell auf 8000 bis 11’000 Franken. Für ihre Mithilfe im Haushalt erhalten die Jugendlichen Kost und Logis und je nach Modell ein Gehalt zwischen 300 und 550 Franken pro Monat.

Im Esszimmer von Victoria Grafs welschem Zuhause plätschert der Sender Couleur 3 aus den Radioboxen. «Das läuft hier immer», sagt sie. Die junge Frau gibt sich zunächst wortkarg, erzählt nur zögerlich von ihrem Entscheid, ein Jahr lang über hundert Kilometer entfernt von ihrer gewohnten Umgebung, Familie und Freunden zu leben.

«Ich wusste nicht so recht, welchen Beruf ich lernen sollte», sagt sie mit leiser Stimme. Daher beschloss sie, ein Zwischenjahr einzulegen. Eigentlich hat die Oberdiessbacherin mit dem englischen Sprachraum geliebäugelt, Vorstellungsgespräche seien dem aber im Weg gestanden. Schliesslich ist der Entscheid auf die Lehre zur Hotelfachfrau gefallen, und da sei Französisch eine Voraussetzung.

Es ist kurz vor 12 Uhr, gemeinsam machen wir uns auf den Weg zur Schule. Die Leute im kleinen Ort grüssen, wir sagen «bonjour». Das halbe Dorf versammelt sich am Mittag vor der Schule von Penthaz, Eltern holen mit SUV ihre Sprösslinge ab. Einige sitzen im laufenden, warmen Auto, andere stehen sich vor dem Pausenplatz mit verschränkten Armen die Beine in den Bauch. «Das machen hier alle so», flüstert Victoria Graf mit der Hand vor dem Mund, als wir den Tross wartender Eltern passieren. Von zu Hause kenne sie das überhaupt nicht, sie sei immer allein zur Schule gegangen. Das sei hier ganz anders als in der Deutschschweiz. Halt eine Frage der Mentalität.

Victoria Graf redet und lacht mit den beiden Kindern auf dem Heimweg. War sie im Gespräch noch verschlossen, blüht sie nun auf. Romane nimmt sie an der Hand. Wo nötig spricht das Au-pair aber auch ein Machtwort. «Tu manges comme un escargot», sagt sie später zu ihrer Gastschwester, als diese in ihrem Gemüse herumstochert. Du isst wie eine Schnecke.

In der Schule in Oberdiessbach habe ihr der Französischunterricht im Gegensatz zum Englisch oft Mühe bereitet. «Wir lernten vor allem Grammatik oder haben erst gar nicht viel gemacht.» Das Sprechen sei zu kurz gekommen. «Ich habe in den vier Monaten hier mehr gelernt als während der sieben Jahre Französischunterricht.» Sie sei selbstständiger und mutiger geworden – und habe erst von ihrer Waadtländer Gastmutter erfahren, dass es ja auch im Kanton Bern einen französischsprachigen Teil gibt.

In vier Monaten hat sie mehr gelernt als in sieben Jahren Französischunterricht. Bei mir waren es sogar neun Jahre, und ich bringe keinen geraden Satz über die Lippen. Wie kann das sein?

Die Lehrmittel in der Kritik

Foto: Daniel Desborough (Archiv Tamedia)

Foto: Daniel Desborough (Archiv Tamedia)

Der Französischunterricht hat im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern einen schweren Stand. Die Kritik an den Lehrmitteln «Mille feuilles» bis zur 6. Klasse und «Clin d’œil» für die Oberstufe reisst nicht ab. Lehrpersonen kommen mit ihren eigenen Sprachfähigkeiten an die Grenzen. Die Nachfolger von «Bonne chance» wurden 2011 in den Passepartout-Kantonen eingeführt. Nebst Bern gehören beide Basel, das Wallis, Freiburg und Solothurn zu diesem Verbund, alle sechs Kantone an der französischen Sprachgrenze.

Französisch als Landes- und sogar als Kantonssprache ist im Unterricht Pflicht. Weil ein Miteinander über die Sprachregionen hinweg kaum stattfindet, tun sich viele deutschsprachige Jugendliche schwer damit. Englisch hingegen ist durch die Musik, TV-Serien, ja durch die Jugendsprache längst in ihrem Wortschatz verankert.

Simone Ganguillet, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule (PH) Bern, war Mitautorin der beiden Lehrmittel «Mille feuilles» und «Clin d’œil». Die aktuelle Diskussion belaste sie persönlich überhaupt nicht. Aus beruflicher Warte könne sie die Debatte zwar nachvollziehen – sie sei aber verfrüht, da die Umsetzung eines neuen Lehrmittels viel mehr Zeit brauche.

Zudem missfällt ihr die «unausgewogene Berichterstattung»: Wenn in einem Fernsehbeitrag Szenen aus dem Unterricht gezeigt würden, in denen die Lehrperson ausschliesslich deutsch spreche, sei das sowieso schon ein schlechtes Beispiel – unabhängig vom Lehrmittel. Simone Ganguillet stört sich auch am Vergleich mit dem Vorgänger-Lehrmittel «Bonne chance». Wissenschaftliche Vergleichsstudien gebe es zwar nicht. Prüfungen, die bis vor wenigen Jahren an der PH stattfanden, legten aber den Schluss nahe, dass angehende Lehrpersonen, die mit «Bonne chance» gross geworden sind, kaum über ein höheres Französischniveau verfügen.

«Der frühere Französischunterricht wird verklärt», sagt Simone Ganguillet.

Ende 2019 erst hat die Berner Bildungs- und Kulturdirektorin Christine Häsler (Grüne) bekannt gegeben, dass eine Arbeitsgruppe die offenbar ungeliebten Lehrmittel untersuchen und Vorschläge ausarbeiten soll. Die Regierungsrätin zeigt sich gar offen für eine Alternative. «Man muss sich einfach der Konsequenzen bewusst sein», sagt Simone Ganguillet zu allfälligen Alternativen.

Die Lehrpersonen müssten sich optimal auf das neue Lehrmittel einstellen können. Weiterbildungen wären nötig, die wiederum Kosten verursachen würden. Allein die Einführung von «Mille feuilles» hat den Kanton Bern schon fast 19 Millionen Franken gekostet. Zudem müsste sichergestellt werden, dass Schülerinnen und Schüler, die die Schule und damit auch das Lehrmittel wechseln, nicht benachteiligt würden. Ein Rattenschwanz.

Es wäre wichtig, das alternative Lehrmittel seriös zu evaluieren und vor allem mit Schulklassen zu erproben, sagt die Dozentin weiter. Das würde mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Bei «Mille feuilles» sei dies im Kanton Bern sogar versäumt worden – mit der Begründung, dass bei uns damals erst ab der 5. Klasse Französisch unterrichtet wurde.

Eine Lehrmittel-Alternative würde den Druck von den Lehrerinnen und Lehrern nehmen, die ihre liebe Mühe mit «Mille feuilles» haben und so die Freude am Französisch nicht vermitteln können. Und dass es wohl einige davon gibt, das ist auch Simone Ganguillet zu Ohren gekommen. Sie bekomme indes auch viele positive Rückmeldungen. Die Meinungen seien unter den Lehrpersonen geteilt – was die Sache nicht einfacher macht.


Simone Ganguillet, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern. Foto: PD

Die Diskussion rund um das Französischlehrmittel ist eine Stellvertreterdebatte. In Wahrheit geht es um mehr als um ein Lehrmittel. Es fehlt am gemeinsamen Verständnis.

Männer unter sich

In einem Wohnzimmer in Vucherens erzählt Lukas Bieri so voller Begeisterung, dass ich ihm kaum Fragen stellen muss. Wieder und wieder klopft er auf die Tischplatte, um das Gesagte zu untermalen. Macht ihn eine Erinnerung nervös, zupft er mit zwei Fingern an seinem Handrücken.

«Wir hatten kein gutes Lehrmittel in der Schule.» Er habe nur seltsame Wörter lernen müssen, die er später nie mehr brauchen würde. Der Hüne von einem jungen Mann beginnt im August seine Lehre als Kaufmann bei einer Bank im Raum Bern. Auch dabei wird Französisch vorausgesetzt. «Ich war sehr schlecht darin und habe mir überlegt, was ich dagegen tun kann», sagt er.

Er hat sich für ein Sprachbad, für das Eintauchen in die französische Sprache, entschieden. Der 15-jährige Blumensteiner hat den Röstigraben überwunden und verbringt wie Victoria Graf ein Jahr in der Romandie. Damit ist er einer von 20 Jungen, die derzeit ein Welschlandjahr an der Didac-Schule absolvieren. Er lebt in Vucherens, einer kleinen Streusiedlung mit knapp 600 Einwohnern im Waadtland.

Und Lukas Bieri wohnt in einem reinen Männerhaushalt mit seinem Gastvater und den beiden -brüdern. Der Monsieur ist geschieden, deshalb kann Didac keine «jeunes filles» an die Familie vermitteln. Lukas Bieris Worte klingen wie die eines gestandenen Mannes in den mittleren Jahren. «Ich muss mir immer wieder ein neues Ziel setzen, damit ich auf etwas hinarbeiten kann.» Das jetzige Ziel ist klar: An der Didac in Lausanne das Niveau B2, selbstständige Sprachanwendung sowie spontane und fliessende Verständigung, erreichen. Dann würde er in der Berufsschule vom Französischunterricht dispensiert.


Quelle: Google Maps

Der junge Mann ist gut unterwegs. Problemlos unterhält er sich mit seinen Gastbrüdern Mattéo (8) und Nathan (14) und macht mit ihnen Hausaufgaben. Im Gegensatz zu Victoria Graf besucht er 20 Lektionen Unterricht pro Woche in Lausanne und arbeitet nur 18 Stunden im Männerhaushalt.

Lukas Bieri hatte explizit ältere Gastgeschwister gewünscht, um sich mit ihnen auf Augenhöhe unterhalten zu können. Vor allem Mattéo nimmt seine Aufgabe ernst: «Es ist wichtig, dass die ‹jeunes filles› und ‹jeunes hommes› Französisch lernen», sagt er. Da sei er auch mal streng und korrigiere sie bei Fehlern.

Er und sein Bruder sind längst an ältere Gastgeschwister aus der Deutschschweiz gewöhnt: Lukas Bieri ist schon ihr siebtes Au-pair. Und zugleich das letzte. Weil die Söhne älter werden, braucht der Gastvater keinen «jeune homme» mehr. Damit wird auch der Austausch der Familie mit der Deutschschweiz ein Ende finden. Die Knaben lernen zwar bereits ab der 1. Klasse Deutsch, doch das Land ennet dem Röstigraben sagt ihnen nichts. «Berne est la capitale de la Suisse», sagt Nathan. Viel mehr wisse er aber nicht.

«C’est comme un autre monde.» Das sei eine andere Welt hinter dem Rideau de rösti. Voilà.

Über dieser anderen Welt, in der Hauptstadt Bern, hängen graue Wolken an diesem Tag im Spätherbst. Im Nieselregen ziehen die Passanten ihre Köpfe ein und haben die Mantelkragen hochgeschlagen. Die Stimmung von Alexandre Schmidt sieht ähnlich aus. In einer Bar sitzt er hinter einem Kaffee und blättert Unterlagen durch.

Die eidgenössischen Wahlen haben ihm aufs Gemüt geschlagen: Der Berner Jura ist seit dem 20. Oktober 2019 nicht mehr im Nationalrat vertreten. «Ein Fiasko», findet der ehemalige Stadtberner Gemeinderat (FDP) und heutige Präsident des Vereins Bern bilingue. Dass er selbst für die grosse Kammer kandidiert hat und gescheitert ist, tue hier nichts zur Sache. Der sich verbreiternde Graben zwischen dem deutsch- und dem französischsprachigen Teil des Kantons wiege viel schwerer. Die Abwahl von Manfred Bühler (SVP) sei der Tiefpunkt dieses Zwists.

«Wir wollen die Parteien in die Pflicht nehmen», sagt Alexandre Schmidt. Ihnen müsse klar werden, dass auch der französische Teil des Kantons Bern - rund zehn Prozent der Bevölkerung - eine politische Vertretung auf nationaler Ebene braucht.

«Das ganze Gestürm um Moutier wird dann ein Ende finden, wenn der Kanton die Zweisprachigkeit auch wirklich lebt.»

Die Bevölkerung des bernjurassischen Städtchens sprach sich 2017 an der Urne für einen Wechsel vom Kanton Bern zum Kanton Jura aus. Die Abstimmung wurde jedoch für ungültig erklärt, die Regierungsstatthalterin sprach von «Abstimmungstourismus, fiktiven Wohnsitzen und gravierenden Mängeln in der Abstimmungsorganisation». Seither brodelt es in Moutier, die Fronten zwischen Pro-Bernern und Separatisten sind verhärtet. Moutier ist der letzte Schauplatz des lang anhaltenden Jura-Konflikts.

Er schwelt seit dem Wiener Kongress 1815, als der europäische Kontinent nach Napoleon neu aufgeteilt wurde. Frankofone Gebiete des Bistums Basel wurden dabei dem Kanton Bern zugesprochen. Erst 1979 wurde der Kanton Jura gegründet, wobei ein kleines französischsprachiges Gebiet dem Kanton Bern erhalten blieb. In den 1980er-Jahren kam es gar zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Pro-Jurassiern und Berntreuen. Viele Bernjurassier fühlen sich von der Berner Regierung missachtet – und nicht verstanden.


Alexandre Schmidt, Präsident Bern bilingue. Foto: Susanne Keller (Archiv Berner Zeitung)

Massnahmen müssten her, sagt Alexandre Schmidt. Mit einer «feuille de route», einem Fahrplan, will der Vorstand von Bern bilingue die Verankerung der französischen Sprache in der Stadtregion Bern – als weitere Ausrichtung nebst der Region Biel und dem Berner Jura – fördern: Schulen sollen etwa ihr Angebot entsprechend der Nachfrage nach französisch- und zweisprachiger Bildung ausrichten und den Austausch mit anderen Sprachregionen fördern. Jede Gemeinde in der Stadtregion Bern soll zumindest eine wichtige Strasse in zwei Sprachen anschreiben.

Geht es nach dem Verein, würden sogar alle Strassen zwischen dem Bahnhof Bern und dem Bundeshaus zweisprachig beschriftet werden.

Der Verein will einen Brief mit diesen Ansätzen an etwa ein Dutzend Gemeinden in der Hauptstadtregion schicken. Es handle sich dabei aber nicht um Befehle, «sondern um Einladungen, die Zweisprachigkeit sichtbar zu machen und wirklich zu leben», betont Schmidt. Wie es beim Englischen bereits der Fall sei, solle auch Französisch in den Alltag einfliessen und Teil des Selbstverständnisses der Bernerinnen und Berner werden. «Wir haben eine 300 Kilometer lange Grenze zu fünf französischsprachigen Kantonen – doch in der Hauptstadt ist kein Schild auf Französisch angeschrieben», sagt er. Würden die Vorschläge der «feuille de route» abgelehnt, sei dies als endgültige Absage an die Zweisprachigkeit zu verstehen.

Darbt die Zweisprachigkeit derart, dass Verordnungen hermüssen?

Bildungspolitiker hätten dem Französischunterricht im deutschsprachigen Kantonsteil jahrzehntelang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, kritisiert der Politiker weiter. Der Vorstand von Bern bilingue fordert nun, dass im Kanton Bern schon im Sommer 2020 das Obligatorium für «Mille feuilles» und «Clin d’oeil» aufgehoben wird – so, wie es bereits im Kanton Baselland der Fall ist.

In der deutschsprachigen Schweiz ist die Rede vom Röstigraben. «Wer will schon sein Kind über einen Graben schicken?», fragt Schmidt. Die Romands hingegen würden von einem «rideau de rösti», einem Vorhang, sprechen. «Der lässt sich ganz leicht zurückschieben.» Für Alexandre Schmidt ist es also eine Frage der Perspektive. Ein Vorhang lässt sich aber immer wieder zuschieben.

Der Verein
Der Verein Bern bilingue wurde 1974 gegründet. Mehr denn je setze sich der Verein heute für die Zweisprachigkeit im Kanton Bern ein. Den Fokus legen die Mitglieder heute vermehrt auf die Bildung. Der Kanton Bern sei der Link, das Bindeglied zwischen der französischen und der deutschen Schweiz. Das schreibt sich der Verein auf die Fahne. Seit 2018 hat Alexandre Schmidt das Präsidium inne. «Der Kanton Bern ist bilingue oder nichts», sagt er. Schmidt selbst ist in Basel und Genf zweisprachig aufgewachsen, er und seine Frau erziehen auch die beiden Söhne zweisprachig.

Austausch, Austausch, Austausch

Thomas Raaflaub ist einer, der diesen Vorhang ganz leicht vor- und zurückschiebt – oder den Graben überwindet. Mit zügigen Schritten schreitet er durch die Rue du Musée von Estavayer-le-Lac. Das pittoreske Freiburger Städtchen ist die zweite Heimat des ehemaligen Berner Sprachkoordinators. Seit den 1970er-Jahren, als sein Vater am Neuenburgersee ein Ferienhäuschen gekauft hat, kommt Raaflaub regelmässig hierher.

Der 64-Jährige hat in Feutersoey nahe der Berner Grenze zum Waadtland 40 Jahre lang gearbeitet. Er hat sich ins Französische verliebt und sich die Sprache selber angeeignet. «Ich höre lieber welsche oder französische Radiosender, die Moderatoren haben einen besseren Humor.» Vor 14 Jahren nahm der Pädagoge die Stelle als Berner Sprachkoordinator an. Es sollte ein Meilenstein in der Geschichte des zweisprachigen Kantons Bern sein.

Raaflaub, der ebenfalls Mitglied von Bern bilingue ist, wechselt mühelos zwischen den beiden Sprachen hin und her. In seinem breiten Berndeutsch führt er aus, wieso Französisch alles andere als ein alter Hut sei. «Es ist ein kantonales und schweizerisches Kulturgut.» Englisch könnten die Jungen inzwischen fast alle. Auf dem Arbeitsmarkt abheben würde sich nur, wer auch Französisch beherrsche.

Das Frühfranzösisch ab der 3. Klasse beurteilt Raaflaub als einen Schritt in die richtige Richtung, er gehe aber noch nicht weit genug: «Die wenigen Lektionen bringen nichts.» Er wischt mit seiner Hand über den Holztisch. «Nichts», wiederholt er mit Nachdruck. Ob denn der Französischunterricht in der 3. Klasse nicht zu früh anfange? Raaflaub schüttelt den Kopf. Der Unterricht werde ja spielerisch gestaltet. «Kleine Kinder lernen viel besser und schneller Sprachen als ältere», sagt der Pädagoge. Ihm schwebt etwas vor, das sogar noch einen Schritt weiter geht: Frühfranzösisch bereits ab dem Kindergarten in zweisprachigen Klassen. Dann würden die Kinder auch die Phonetik, also die richtige Aussprache, übernehmen.

Letztlich sei ohnehin Immersion, das Eintauchen, die einzige zielführende Methode. «Austausch, Austausch, Austausch.» Man müsse in die Sprache eintauchen, diese erleben und in sich aufnehmen. Thomas Raaflaubs Vision: Jede Jugendliche und jeder Jugendliche in der Schweiz absolviert einmal einen Aufenthalt in einer anderssprachigen Region.

Diese Vision strebt auch Movetia, die Schweizer Agentur für Austausch und Mobilität, an. Dass der Weg noch ein weiter ist, zeigen die Zahlen des Schuljahres 2017/2018: Schweizweit absolvierten nur rund zwei Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen Austausch in einer anderen Sprachregion. Spitzenreiter war dabei der Kanton Wallis, der Partner des Kantons Bern bei «Deux langues – ein Ziel», mit über sechs Prozent. Der Kanton Bern brachte es auf eine Austauschquote von knapp zwei Prozent.

Das Prinzip des Austauschprogramms kann einem ganzjährigen Sprachaufenthalt aber niemals das Wasser reichen – das ist auch Thomas Raaflaub klar. Das interkantonale Austauschprogramm sei aber ein wichtiger Anfang und befinde sich auf dem richtigen Weg. «Der Kanton Bern hat erkannt, dass die Zweisprachigkeit keine Mühsal, sondern eine Chance ist», sagt Raaflaub. Es müsse sich ein Mit- statt ein Nebeneinander entwickeln.

So wie in Biel? Die Stadt gilt schweizweit als Aushängeschild, was die Zweisprachigkeit angeht. Strassenschilder sind auf Deutsch und Französisch angeschrieben, die Busdurchsagen erfolgen zweisprachig. Die meisten Verkäuferinnen und Verkäufer können mühelos zwischen beiden Sprachen hin und her wechseln. Doch Thomas Raaflaub winkt ab. «Auch dort ist es noch ein Nebeneinander.» Die zweisprachigen Klassen seien aber eine «super Sache».

Im Sommer 2019 wurde Thomas Raaflaub pensioniert. Nun engagiert er sich in einem 40-Prozent-Pensum für Estasympa, ein Integrationsprogramm in Estavayer. Einmal Brückenbauer, immer Brückenbauer.

Das Austauschprogramm
«Deux langues – ein Ziel» ist ein Pilotprojekt der Kantone Wallis und Bern. Das Austauschprogramm dauert insgesamt neun Tage und erfolgt in Halbklassen, die rotieren. Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler einer Klasse begibt sich von Samstag bis Mittwoch in die andere Sprachregion. Vor Ort sind die Schülerinnen und Schüler in einer Gastfamilie untergebracht und besuchen mit ihren Gastgeschwistern den Unterricht. Mitte der Woche wird gewechselt. Die Lehrkräfte bleiben an ihrer Schule und unterrichten normal weiter.

Immersion, Brücken bauen und Gräben überwinden. Darin sieht auch Simone Ganguillet von der Pädagogischen Hochschule Bern den springenden Punkt.

Die Dozentin kritisiert die geringe Lektionenzahl, insbesondere auf der Mittelstufe. Französisch ist zwar ein für die Selektion in die Sekundar- oder Realschule relevantes Übertrittsfach – und doch haben die deutschsprachigen Berner Fünft- und Sechstklässler nur gerade zwei Lektionen Franz-Unterricht pro Woche. Zum Vergleich: In den beiden anderen Übertrittsfächern Deutsch und Mathematik sind es je fünf Lektionen.

Die Motion «Für einen erfolgreichen Französischunterricht» von drei Berner Grossräten fordert, den Stundenplan auf der Primarstufe anzupassen, damit mindestens drei Lektionen Französisch pro Woche unterrichtet würden. Und beim Übertrittsverfahren zwischen Primar- und Oberstufe soll keine Zuweisung zu einem Niveau erfolgen. Die Motionäre fordern stattdessen eine Prüfung des Fachs «Natur, Mensch, Gesellschaft» als Übertrittsfach.

Das Schulfach Französisch als Selektionsfach zu streichen, hätte sicher Folgen. Diese seien im Moment aber noch schwierig abzuschätzen, sagt Simone Ganguillet: «Manche Kinder – und auch Lehrpersonen – hätten an der Sprache wohl mehr Freude, weil der Druck wegfallen würde. Andere würden es vielleicht weniger ernst nehmen.» In keinem anderen Kanton mache Französisch heute ein Drittel für den Sek-Übertritt aus.

Die Dozentin weist zudem darauf hin, dass es insbesondere für die Primarlehrpersonen ein hoher Anspruch sei, alle oder fast alle Fächer zu unterrichten – in anderen Ländern würden die Fremdsprachen in der Regel von speziell ausgebildeten Lehrpersonen unterrichtet.

Michael Gerber, Kommunikationsbeauftragter der PH, verfolgt das Gespräch zwischen Simone Ganguillet und mir. Gegen Ende schaut er auf sein Blatt Papier und schüttelt den Kopf. «Jetzt haben wir nur negative Punkte aufgezählt.» Französisch sei unbeliebt, schwierig zu lernen, das Lehrmittel sei angeblich schlecht und die Lektionenzahl zu klein.

Aber es gebe doch durchaus positive Aspekte an der französischen Sprache: Die Zweisprachigkeit sei ein grosser Vorteil für den Kanton Bern und ein wichtiges Kulturgut. «Vielleicht müssen wir auch unsere Erwartungen herunterschrauben», sagt Simone Ganguillet, «und uns damit abfinden, dass wir während der obligatorischen Schulzeit keine Französischexperten hervorbringen.» Im Schnitt müsse das Niveau A2, also elementare Sprachverwendung, nach der 9. Klasse reichen.



«Viel wichtiger ist es, den Schülerinnen und Schülern die Freude an der Sprache zu vermitteln.» Und ihnen auf den Weg zu geben, die Sprache weiter zu gebrauchen – oder gar einen Sprachaufenthalt zu machen. «Immersion ist natürlich die beste Lösung», sagt Simone Ganguillet. Aber die Möglichkeit von Sprachbädern, etwa in einem Austauschprogramm, sei immer an politische Entscheide und letztlich an Finanzierungsmöglichkeiten geknüpft. «Bei der Diskussion über die Landessprachen und die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist immer Zündstoff drin», sagt Simone Ganguillet.

Das mache das Thema spannend, aber manchmal auch anstrengend – so schnell werde sich daran wohl nichts ändern.



«Attends!», sagt das «jeune fille» Victoria Graf zu ihrem Gastbruder Robin, als er mit dem Besteck auf den Tisch haut. «On dit: arrête!», korrigiert er. Aufhören statt warten. Das soll nicht für den Französischunterricht im Kanton Bern gelten, denke ich mir.

Ich fahre vom Waadtland zurück in die Deutschschweiz. Auf der Höhe von Freiburg drehe ich den Knopf wieder auf meinen Sender. Zurück in der bequemen Deutschschweiz, retour aus der Romandie, Feriengefühl adieu.

Ich frage mich: Wieso gehe ich nicht öfters ins Welschland?

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Konzept, Text, Fotos (sofern nichts anderes angegeben),
Videos, Tabelle, multimediale Umsetzung: Béatrice Beyeler
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Mein Dank geht an Cedric Fröhlich, Stefan von Bergen, Claudia Salzmann und Tobias Krauss
- fürs Gegenlesen und die Unterstützung in allen Belangen.

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