Eines Abends 1976 nimmt Marc Brunner in Basel den Nachtzug nach Paris. Es muss Paris sein, weil dort die grossen Zirkus- und Theaterschulen sind.

In dem Stück «Die Mücke spricht» geht es um eine Mücke, die zu viel Menschenblut getrunken hat und zum Mensch geworden ist.

In dem Stück «Die Mücke spricht» geht es um eine Mücke, die zu viel Menschenblut getrunken hat und zum Mensch geworden ist.

Die Schule liegt im 10. Arrondissement. In unmittelbarer Nähe des Rotlichts.

Marc hat Lust, aber er wagt es nicht.

Eines Abends 1976 nimmt Marc Brunner in Basel den Nachtzug nach Paris. Er ist 19 Jahre alt. «Er hat uns versohlt», sagt der Vater. «Aber die Lehre hat er abgeschlossen», betont die Mutter  – gleich mehrmals. Er habe erst vor ein paar Jahren erfahren, sagt der Vater, was wirklich hinter der Berufswahl steckte.

Chemielaborant musste es sein, weil es die einzige freie Stelle war in Basel. Und Basel musste es sein, weil man in der Deutschschweiz nirgends näher an Paris dran ist. «Das hatte er sich gut eingerichtet. Kaum war die Lehre zu Ende, war fertig mit Chemie.»

Und Paris muss es sein, weil dort die grossen Zirkus- und Theaterschulen und die grossen Mimen sind. Weil es eine Theaterstadt ist. Wegen Marcel Marceau, Jacques Lecoq, Étienne Decroux. Weil Marc vom Circus Knie infiziert ist, weil es für ihn keine anderen Idole gibt.

«Nein, keine Sorgen, im Gegenteil», sagt der Vater. «Mit der Zeit fanden wir das sogar interessant, dass da jemand ausschert.»

Ausscheren heisst in Marcs Fall Schauspielunterricht bei Jacques Lecoq, in dessen Theaterschule. Luc Bondy, Christoph Marthaler, Yasmin Reza haben bei ihm studiert.

Die Schule liegt im 10. Arrondissement, an der Rue du Faubourg Saint-Denis. In unmittelbarer Nähe des Rotlichts. «Salut beau gosse, ça va?», heisst es von der anderen Strassenseite.

Marc wagt es nicht. Er hat seit ein paar Monaten eine Freundin. Die Beziehung wird acht Jahre halten. Aber Marc hat Lust. Nicht nur auf die Prostituierten. Nein, er mag das Spiel. Die Verführung, die Kleider. «Es hat mich sehr gereizt», sagt Stella heute. «Die Prostituierten kurbelten meine Fantasie an und jene Seite in mir regte sich.»

Die Lecoq-Schule macht Marc Brunner zum Schauspieler. Er lernt Xavier Mestres Emilió kennen, einen Regisseur und Artisten aus Barcelona. Daraus entsteht eine Freundschaft und Zusammenarbeit, die ein ganzes Leben hält.

«Es hat mich sehr gereizt. Die Prostituierten kurbelten meine Fantasie an.»

Nach drei Jahren kommt Marc zurück in die Schweiz. Dann zieht er gemeinsam mit Xavier als Strassenkünstler durch Europa. Zuerst Strassentheater, dann Engagements bei Rigolos tanzendem Theater, im Circus Conelli und im Circus Nock. Dann Teatro 7 bei Alessandro Marcchetti in Mailand.

Und immer wieder tanzt er über Seile und über reissende Flüsse, kommt in die Zeitungen. Etwa über die Limmat in Baden 1982. Dann wird die Wohnung an der Rathausgasse in Baden frei und der alte Weinkeller zum eigenen Spielort.

Noch heute ist Xavier bei den meisten Produktionen an Marcs Seite. Bei der «Mücke» führt er Regie.

Xavier Mestres Emilió: Regisseur, Schauspieler, Artist und langjähriger Freund.

Xavier Mestres Emilió: Regisseur, Schauspieler, Artist und langjähriger Freund.

«Es stimmt, schon als junger Mann hatte er eine ausgeprägte weibliche Seite», sagt Xavier. In den 1980er Jahren war das aber noch nicht so verbreitet. Travestiekünstler, ja. Aber Transmenschen? Kaum.» Und schliesslich habe Marc nie Männern hinterher geschaut, immer nur Frauen.

Xavier spricht den Namen Palino kurz aus, mit starkem Zungenschlag beim L. Als wolle er die Persönlichkeit betonen, die sich hinter dem Künstlernamen verbirgt. «Nein, sein Charakter hat sich nicht verändert, seit er zu Stella geworden ist», sagt Xavier. «Aber sein Verhalten.» Dass Marc als Stella plötzlich gerne shoppen gehe, habe nichts mit der Gesinnung zu tun, sondern mit dem Kleiderangebot.

Wie er die Veränderung erlebt hat, erzählt Xavier im Video:

Und doch spricht Xavier dann davon, dass sich Palino! früher immer in den Vordergrund gedrängt hat. Dass Stella sich weniger aufplustert. Und ja, am Anfang war es auch für Xavier gewöhnungsbedürftig. «Ich habe es lange nicht geschafft, ihn mit Stella anzusprechen. Für mich blieb er zunächst, was er immer wieder mal gewesen war: ein verkleideter Marc.»

Der Körper ist ein Kostüm und das Geschlecht eine Rolle. Alles leicht veränderbar. Doch aus dieser einen Verwandlung wird Ernst. Und sie wirft Marc auf die Urfrage zurück: Wer bin ich?

In den ersten Jahren nach der Trennung von Tina beginnt die Zeit der Travestieshows.



Nach seinen Auftritten als Stella schlendert er öfter noch im Kostüm durch das Foyer des Brennpunkt-Theaters, geniesst die Aufmerksamkeit. Er hat keine Lust mehr, sich abzuschminken. Xavier sagt es so: «Marc war einsam und traurig damals. Und da kam Stella raus.» Für ihn ist klar: Ohne die Trennung von Tina wäre Stella nie zum Vorschein gekommen.

Till sagt seinem Vater heute Dad oder Marc. Stella kommt für ihn nicht infrage.

Marc stürzt sich in die Arbeit. Zwischen 1997 und 2000 bringt er mehr als zehn eigene Produktionen auf die Bühne am Brennpunkt. Und nebenher will Stella immer mehr Platz einnehmen. Aber das ist schwierig. Schon nur wegen der Kinder: Senta  – und Till, der 1993 geboren ist. Marc will ihnen nahe sein. Trotz Stella und den zahlreichen Produktionen.

«Ich hatte immer ein gutes und enges Verhältnis zu meinem Vater. Er hat viel investiert, um Zeit mit uns zu verbringen», sagt Till, heute 23 Jahre alt. Auch er kommt dann und wann in der «Unvermeidbar» vorbei. «Durch das Theater am Brennpunkt hatte ich eine Kindheit wie aus dem Bilderbuch», sagt er. «Und er nahm mich immer mit zum Gleitschirmfliegen.»

Als dann die Veränderung Tatsache wird, geht Till auf Distanz. «Ich brauchte Zeit. Es hätte ja auch nur eine Phase sein können.» Till hat die Frauenrollen seines Vaters auf der Bühne nicht so ernst eingestuft. Hat es nicht kommen sehen. «Vielleicht war ich naiv», sagt er.

Till sagt seinem Vater heute Dad oder Marc. Stella kommt für ihn nicht infrage. «Wenn es ihn erfüllt, dann ist es die richtige Entscheidung. Aber ich müsste jetzt nicht im Sommer mit ihm durch die Stadt gehen, wenn er Hotpants trägt.»

Doch nur eines stört ihn wirklich: «Fragen Sie ihn, wann er zum letzten Mal fliegen gegangen ist.» Stella will nicht fliegen. Sie macht auch keinen Seiltanz mehr. Weil sie keine Zeit hat, sagt sie.

Till sagt es nicht direkt, aber so ganz nimmt er seinem Vater die Stella-Sache nicht ab. Er beschreibt ihn als jemanden, der sich schnell langweilt. Als ungeduldigen, aufbrausenden Menschen mit einem grossen Ego. Als jemanden, der Aufmerksamkeit braucht. «Die hat er jetzt natürlich wieder», sagt Till.

Er war noch zu jung, um die Veränderung mitzubekommen. Er erfuhr auch erst davon, als es schon endgültig war. Er wusste nichts von Marcs abermaligen Reisen nach Paris.

«Fragen Sie ihn, wann er zum letzten Mal fliegen gegangen ist.»
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