Motorisierte illegale Flugversuche auf der Baldegg, ca. 2002

Motorisierte illegale Flugversuche auf der Baldegg, ca. 2002

Im August 1989 fährt Marc Palino Brunner mit seiner Freundin Tina von Baden ins Oberengadin. Er will in Pontresina Gleitschirmfliegen. Seit es diesen Sport gibt, ist er mit Haut und Haar dabei. Bei guten Wetterverhältnissen zwei, drei Mal pro Woche.

Tina geht derweil spazieren. Sie ist im sechsten Monat schwanger. Am Wegrand entdeckt sie ein Reh ohne Kopf im Gras  – und macht sich sofort Sorgen.

Der Anruf kommt aus dem Spital Samedan: Marc ist abgestürzt. Als Tina ans Krankenbett tritt, erkennt sie ihn nur noch an den Füssen. Was nach Thermik ausgesehen hatte, war ein Wirbel. Aus 15 Metern ist er auf spitzes Geröll gefallen  – auf die linke Seite. Das linke Auge scheint verloren, der Schädel ist gebrochen. 16 Brüche sind es insgesamt. Die Ärzte sind nicht optimistisch.

Sechs Wochen liegt Marc im Spital. Das Auge kann gerettet werden, die Sehkraft beträgt noch 11 Prozent. Drei Monate später, am 1. Dezember 1989, tritt er im Badener Kurpark in seiner eigenen Produktion auf, dem Circo Furioso  – gemeinsam mit 40 Artisten. Die Vorstellung ist schlecht besucht. An diesem Tag kommt auch seine Tochter zur Welt. Senta. Im Mai 1990 geht Marc wieder fliegen.

Senta hat heute wenig Kontakt zu ihrem Vater. Und Tina, die Mutter, spricht seit Jahren nicht mehr mit ihm. Marc heisst heute nicht mehr Marc. Er heisst Stella. Seit 2014 steht es so in ihrem Pass. Seit 2010 nimmt sie Hormone. Rückblickend sagt Stella: «Man sagt ja, dass die linke Körperseite die männliche ist. Die wurde beim Absturz 1989 zertrümmert und ist wohl nie ganz verheilt.»

Stella vermisst Senta und Tina. Senta meidet den Kontakt, weil ihr Vater jetzt Stella und nicht mehr Marc heisst. Tina meldet sich aus anderen Gründen nicht. Die Beziehung ging 1995 in die Brüche, weil Marc damals etwas anderes im Kopf hatte: «Ich dachte ständig nur an das Theater am Brennpunkt. Aber ich habe Tina geliebt, ich hatte sie einfach ein bisschen vergessen.»

Brennpunkt. Das sind Fabrikhallen in Baden, in denen sich der knapp vierzigjährige Marc Brunner ab 1995 für 2000 Franken pro Monat einmieten kann. So entsteht die erste mittelgrosse Theaterbühne des Kantons Aargau. Die Jahre am «Brennpunkt» sind Marcs erfolgreichste, und sie sind zugleich der Beginn eines anderen Lebens. Stella sagt es so: «Nach der Trennung von Tina hatte ich genug von Frauen. Ich sagte mir: Jetzt werde ich meine eigene. Ich bringe sie auf die Bühne. Lebe das aus.»

Solche Entscheidungen tönen nach Wahn. Sind es vielleicht auch. Aber Marc war schon immer so. Und Stella war schon immer in Marc drin und wartete, bis ihre Zeit gekommen war.

Stellas Geschichte ist nicht eine, in der lange alles falsch war und jetzt mit den Hormonen, den gemachten Brüsten und den blonden Extensions plötzlich alles richtig.

«Ich war nie im im falschen Körper», sagt Stella im Video.


Stellas Geschichte ist eine über die Lust, sein zu können, was man gerade fühlt. «Die Verwandlung ist das Elixier des Lebens», sagt Stella. Das hat sie kürzlich irgendwo gelesen. Das gefällt ihr. «Ich will heute weder das eine noch das andere sein. Ich will im Mystischen verbleiben, im Dazwischen. Ich bin Trans.»



Vielleicht ist es ein halbes Prozent der Bevölkerung, das direkt oder indirekt vom Thema Trans* betroffen ist. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Das Transgender Network Switzerland geht von höchstens 40 000 Menschen aus, die hierzulande mit ihrem körperlichen Geschlecht hadern. Hormontherapien oder gar operative Eingriffe machen dann wiederum nur ein paar Hundert. Gerade in den Medien finden sich Vorurteile, Missverständnisse und vor allem sprachliche Fehler. Das Transgender Network Switzerland setzt sich dafür ein, dass die richtigen Begriffe gebraucht werden.

Der im Text verwendete Begriff Verwandlung trifft nur auf Stella Palino zu, weil es ihr Lebensthema ist. Für die meisten Transpersonen aber stimmt er nicht. Auch das häufig verwendete Wort Umwandlung weist in eine falsche Richtung. Wenn, dann wäre Angleichung der richtige Ausdruck. Es geht nämlich darum, dass eine Person ihr Leben ihrer Geschlechtsidentität anpasst. Manchmal gehören körperliche Angleichungsmassnahmen dazu, manchmal nicht.

Hier die wichtigsten Begriffe zum besseren Verständnis und Umgang mit der Thematik.
(Weitere Informationen gibt es auf der Website des Transgender Networks Switzerland.)

Trans*/Transgender: Oberbegriff für alle Transmenschen. Wird auch verwendet für Menschen, für deren Geschlechtsidentität das Zweigeschlechtermodell nicht ausreicht, die sich also nicht nur als Mann und nicht nur als Frau fühlen sowie für Transmenschen.
Transfrau: Mensch, der mit dem Körper eines Knaben geboren wurde, sich aber als Frau identifiziert.
Transmann: Mensch, der mit einem biologisch weiblichen Körper geboren wurde, sich aber als Mann identifiziert.
Transvestit / Crossdresser: Mensch, der sich zeitweise entsprechend der Rolle, die nicht seinem Geburtsgeschlecht entspricht, kleidet. Transvestiten leben meistens in der Rolle ihres biologischen Geschlechts.

Immer auf Draht: Hommage an Franz Kafka, Theater am Brennpunkt 2001, Regie: Xavier Mestres

Immer auf Draht: Hommage an Franz Kafka, Theater am Brennpunkt 2001, Regie: Xavier Mestres

Der Name Palino gehört zur Stadt Baden wie Tellenbach einst zu Bern. Alles beginnt 1985, lange vor dem Brennpunkt-Theater. Da wohnt Marc in einer Wohngemeinschaft an der Rathausgasse 7 und erfüllt sich nach der Entdeckung eines Weinkellers den Traum jedes Theatermenschen: Eine eigene Spielstätte  – kaum grösser als eine Schuhschachtel. Das Teatro Palino ensteht. Hier gehen in 30 Jahren an die 40 eigene Produktionen über die Bühne. 2010 kommt die «Unvermeidbar» dazu. Eine Beiz gleich vis-à-vis. Das Teatro Palino, eine Badener Institution? Die Subventionen fliessen, manchmal mehr, in letzter Zeit weniger.

«Wir lassen Stella sicher nicht verhungern», sagt der Badener Stadtamman Geri Müller im Video.


Hier sitzt Stella nun. Eine blonde Mähne hängt wild vom Kopf. Ihre Stimme ist weiblich, ausser wenn sie laut wird. Die Hände sind kräftig  – Hände eines Kletterers. Der Körper durchtrainiert, alterslos. Ein Gesicht aus Lachfalten. Ein Gesicht aus 40 Jahren Bühnenpräsenz. Man denkt an einen älteren Clown, eine Clownin. Das linke Augenlid hängt ein wenig.

Sitzt man lange genug in Stellas Bar, ist es unvermeidbar, fast all ihren Bekannten zu begegnen. Und so erfährt man, wie das ist, wie das war, wenn ein Sohn, ein Bruder, ein Vater, ein Freund zur Tochter, zur Schwester, zur Mutter, zur Freundin wird.

Die Eltern, Erich und Gertrud Brunner, sitzen an einem der Tische vor dem Tresen. Erich Brunner, Jahrgang 1932, trinkt Kaffee. Seine Frau Gertrud, Jahrgang 1933, trinkt Leitungswasser. Stella sitzt mit am Tisch. Sie hat gerade zwei Stunden Proben hinter sich. Die Eltern bringen Bandagen mit. Stella braucht sie für ihr Kostüm. Das Stück, das sie am Proben ist, heisst «Die Mücke spricht». Darin geht es um eine Mücke, die zu viel Menschenblut getrunken hat und zum Mensch geworden ist. Wieder eine Verwandlung. Das Lebensthema von Stella Palino Brunner.


Die Eltern: Gertrud und Erich Brunner

Auf einer Art Krankenbett liegend, mit Wunden am ganzen Körper, monologisiert das Insekt über das Menschengeschlecht. Geschrieben hat es Stella selber. In drei Wochen ist Premiere. Die Mücke ist die wohl fünfzigste Palino-Produktion und bereits die zweite dieses Jahr. Die letzte hiess «Gender Mutiny». Meuterei des Geschlechts. Die Hauptthese: Frau und Mann gibt es nicht. Stella spielte beide Geschlechter. Es war das erfolgreichste Stück seit Jahren, 600 Menschen haben es gesehen.

«Das war maximal», sagt der Vater Erich Brunner. «Aber eine Ausnahme.» Er ist überzeugt: Seit Marc Stella heisst, sind die Besucherzahlen zurückgegangen. «Es gibt viele, die dich so nicht sehen wollen», sagt er zu ihr.

Auf das Thema Trans angesprochen, reagieren die Menschen unterschiedlich. «Wieder eine Minderheit, die ihre Rechte will», sagen die einen. Andere tun es als reine Schauspielerei ab. Wieder andere glauben, es sei ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Frauen scheint es mehr zu interessieren als Männer. Fast alle sehen Transmenschen als ein wenig krank, unnatürlich, oft als Opfer.

Stellas Geschichte ist eine andere. Es ist die Geschichte eines Buben, der alles und nichts sein will. Einem Buben mit wachem Blick, der auf der Terrasse einer Wohnung an der Zentralstrasse in Wettingen steht und auf das rot blaue Zelt starrt, über dem der Schriftzug «Knie» prangt. Ein Schriftzug, der verspricht, dass es eine Welt ausserhalb der üblichen Rollen gibt.

Dieser wache Blick sieht noch etwas anderes. Später im eigenen Zimmer. Ein Spiegelbild, ein blonder, schmächtiger, junger Mann in den Kleidern seiner Freundin, mit zum Kussmund gespitzten Lippen. Was er da sieht, ist schön, ist erregend, der Junge reibt an seinem Penis.

Marc geht in Wettingen in die Sekundarschule. Seine Noten sind mittelmässig. Unter seinen Freunden ist er gerne die Prinzessin, lässt mit sich spielen. Mit 15 hat er nur ein Ziel: die Manege.

«Schon als Kind hat er auf der Wiese vor unserem Haus Shows durchgeführt», sagt der Vater. Marc habe schon immer gesagt, er wolle Clown werden. «Das war aber kein Thema für uns.»

Nach der Schule wartet «Berufslehre und fertig», wie Erich Brunner sagt. Er rät zu einer Schreinerlehre. Marc entscheidet sich für Chemielaborant in Basel.

Anders als Stella Palino führen die meisten Transpersonen kein Schauspielerleben. Ein Coming-out ist schwieriger, weil damit oft auch das soziale Umfeld wegbricht: Familie, Freunde, am häufigsten der Arbeitsplatz. Das Transgender Network Switzerland setzt sich für Menschen ein, die nach ihrem Coming-out etwa ihre Arbeitsstelle verloren haben.


Henry Hohmann,
Präsident Transgender Network Switzerland

«Schon als Kind hat er auf der Wiese vor unserem Haus Shows durchgeführt», sagt der Vater, Erich Brunner.

Pic o Pello, 1975

Pic o Pello, 1975

«Nein, gemerkt haben wir nichts», sagt Gertrud Brunner. Rückblickend sagt der Vater: «Er war feminin, ja, zart. Ganz anders als der Bruder Peter. Marc hatte diese Seite, und der verlieh er mit dem Clownspielen Ausdruck.» Und so sei etwas zum Vorschein gekommen. HSP nennt er es. Hochsensible Person.

Nicht nur der Sohn, auch er selber habe das, sagt der Vater. Erst im Alter habe er gemerkt, dass er schon immer besser mit Frauen zurande gekommen sei. Dass für ihn viele Männer eigentlich immer zu grob waren. Aber damals war das alles kein Thema, konnte keines sein. Die Welt war eine andere.

Die Mutter sagt: «Ich habe 1957 einen Sohn geboren.» Sie nennt Stella immer noch Marc. Der Vater korrigiert sie dann. Dafür spricht die Mutter von «ihr», während der Vater bei «ihm» bleibt. An den Namen hat er sich aber gewöhnt, spricht ihn aber mit Sch aus, also Schtella.

Die Verwandlung bekommen sie nicht wirklich mit. Aber als sie es erfahren, ist es nicht leicht. «Ich muss sagen, es war brutal», sagt der Vater. Klar beobachtet er seinen Sohn, wie er im Theater am Brennpunkt nach der Trennung von Tina immer öfters als Frau auf die Bühne geht. Aber er tut es als Flausen ab.

Fast fünfzehn Jahre vergehen, dann schlägt Erich Brunner am 28. Dezember 2010 die Aargauer Zeitung auf und schluckt leer: «Palino schminkt sich nicht mehr ab», so die Schlagzeile.


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«Wir mussten es aus der Zeitung vernehmen», sagt der Vater. Geweint hätten sie im ersten Moment. Nie hatten sie daran geglaubt, dass es einmal so weit kommen könnte. Sorgen und Fragen kommen auf. Was machen die Hormone mit dem Körper, was passiert im Kopf?

Aber: «Wir haben es immer akzeptiert. Wir haben ihn machen lassen, er war erwachsen genug. Wir hatten kein Recht, reinzufunken», sagt der Vater. Bei der Mutter stimmt es noch nicht ganz, wie sie sagt. «Ich habe nichts dagegen, dass sie so ist. Aber er wurde als mein Sohn getauft. Das ist einfach in mir drin.»

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