Zehn Jahre lang pendelt Marc zwischen Paris und Baden hin und her.

Das fehlende Geld brennt seit Jahren unter den rot lackierten Nägeln. Die Subventionen fliessen nicht so, wie einst.

Stella ist ein wenig einsam. Eine Unruhe hatte der Vater ein paar Wochen zuvor an ihr festgestellt.

Stella strahlt. Im Schatten beginnt Marc nach und nach wie eine Fotografie zu verblassen. Stella will raus. Sie kann nicht. Die Provinz ist im Weg. Die Familie auch ein bisschen. Es gibt wiederum nur einen Ort, wo die Verwandlung möglich ist: Paris.

Das erste Mal als Frau auf die Strasse zu gehen, braucht Mut. Marc nimmt den Nachtzug. Wiederum ab Basel. An einem Sonntag im Jahr 1996 kommt er in Paris an. In den Taschen Stellas Kleider. Er checkt in einem Hotel am Boulevard de Sébastopol ein. Er ist nervös. Heute soll Stella das reale Leben betreten.

Um die Mittagszeit sitzt Marc in seinem muffigen Hotelzimmer. Beginnt sich zu schminken. Vier, fünf Stunden dauert das. Er klebt sich Fingernägel an, setzt sich Perücken auf, trinkt, nein, säuft, Weisswein, um sich zu beruhigen. Um 18 Uhr ist er, ist sie so weit. Dann Panik. Der Rezeptionist. Wird er ihn sehen? Anstarren, auslachen gar?

Stella verlässt das Zimmer, stöckelt die Treppe hinab, an der Rezeption vorbei. Nichts. «Er hat nicht einmal von seiner Zeitung aufgeschaut», erinnert sich Stella. Dann macht sie eine Runde um den Hotelkomplex. Zu mehr ist sie nicht fähig. «Ich fühlte mich danach, als hätte ich eine Bergtour gemacht.» Sie legt sich aufs Bett und schläft sofort ein.

Schon ein paar Tage später der erste Wein im Pariser Café als Stella. Dann die ersten Clubbesuche. Ab jetzt nimmt Marc, immer wenn er Zeit hat, in Basel den Nachtzug und steigt am Gare de l’Est als Stella wieder aus. Langsam entdeckt er die Pariser Transszene, den Sex mit Männern. Probiert alles aus, alles. Die Dämme brechen.

Zehn Jahre lang pendelt Marc zwischen Paris und Baden hin und her. Ein anderes Leben, ein wildes Leben, derselbe Mensch? «Gefährliches Zeug habe ich erlebt, geiles Zeug, schräges Zeug», sagt Stella.

2004 geht Marcs hohe Zeit am Theater am Brennpunkt zu Ende. Der Grund ist eine monströse Freiluftproduktion im Jahr 2001.

Marc bringt Shakespeares «King Lear» auf die Bühne. Eine monströse, teure Produktion soll es werden. In Französisch.

Er lässt Bühnenbilder mit dem Helikopter anfliegen. Er hört die warnenden Stimmen nicht.

Und dann: Regen. Neun Vorstellung fallen buchstäblich ins Wasser.

Am Ende sitzt Palino auf fast 200'000 Franken Schulden. 2004 muss er die Leitung für das Brennpunkt abgeben. Er kehrt zurück in seine Schuhschachtel an der Rathausgasse. Was bleibt sind bis heute andauernde Geldprobleme und der Text im Kopf:

Stella steht an der Bar. Vor zwei Tagen war Premiere für das Mückenstück. Ausverkauft. «Das ist immer so an den Premieren», sagt sie. Heute ist die zweite Vorstellung. «Ich erwarte zwischen null und sieben Zuschauer.» Ein Auf und Ab, wie immer. Das Thema Geld brennt seit Jahren unter den rot lackierten Nägeln. Die Subventionen fliessen nicht mehr wie einst. Baden spart, wo es kann.

Stella ist ein wenig einsam. Das gehört zu dem Weg, den sie seit sechs Jahren geht. Das sagt sie selbst. Eine Unruhe hatte der Vater ein paar Wochen zuvor an Stella festgestellt. «Du warst irgendwie zufriedener vorher als Mann», sagte er. «Natürlich war es einfacher», sagt sie. «Ich habe die Männerrolle gelebt, war Vater von zwei Kindern. Ich habe perfekt reingepasst. Jetzt spüre ich den Konflikt mit der Gesellschaft, die Hiebe, die ich abbekomme, die Einsamkeit. Es ist nicht leicht.»

Und dann erzählt sie, wie das war. Das Coming-out 2010 in der Zeitung. Die Hormone, die sie nehmen muss, die Therapie, die sie machen muss, der juristische Kampf um den Passeintrag, die Brustoperation.

Und spricht davon, wie sich der Körper verändert, die Sexualität auf den ganzen Körper übergreift, weit über den Penis hinaus. Den hat Stella noch. «Stören tut mich das Würstchen eigentlich nur am FKK-Strand. Da denke ich manchmal schon, eine Vagina wäre schön.» Diesen Weg wird sie aber nicht gehen. Zu gross ist das Risiko, zu unsicher sind die Konsequenzen. «Ich möchte meine Sexualität nicht verlieren. Die machen dir zwar eine superschöne Vagina. Aber du weisst nicht, wie viel du dann noch spürst. Davor hätte ich Angst.»

Geschlechtsangleichung in der Schweiz: Ein mühseliger Weg


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Stella ist etwas ernüchtert. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie heute Abend ihre zweite Vorstellung hat. Der Rausch der Verwandlung hat sich etwas gelegt. Der Dunstnebel der Show löst sich langsam auf. «Ich habe immer noch die gleichen Probleme, auch jetzt als Frau», sagt sie etwas zu laut. «Wo ist der Sinn des Ganzen? Ein bisschen Silikon, ein wenig Hormone schlucken, ein paar Röllchen spielen. Warum? Vielleicht, weil es Empfindungen sind, und die sind es wert. Es sind ganz neue Erfahrungen.»

Die Urfrage nach der Identität bleibt:


Und fährt dann fort, die Ernüchterung irgendwie zu erklären: «Das eigene Glück ist eine Empfindung, die losgelöst ist von allen Normen und Rollen. Deshalb ist auch der ganze Geschlechter-Hokuspokus nicht wichtig. Es geht nur darum, seine Empfindungen zu leben.»

Eine Freundin, einen Freund hat Stella heute nicht. Sie spricht von einer Frau, die sie ab und zu trifft. Es ist schwierig mit der Liebe. Eine bisexuelle Frau müsste es sein  – im Idealfall. «Mit Männern habe ich Sex. Aber Liebe? Ich weiss nicht. Ich war nie schwul. Im Moment ist es meine Sehnsucht, mit einer Frau eine tiefe Liebe zu haben. Weil ich halt den Frauenkörper begehre. Aber es ist schwierig mit den Frauen, es ist schwierig.»

«Vielleicht suchte Marc im Rollenwechsel auch eine Art Versöhnung mit sich selbst.»

Doris Brunner, Stellas Schwester

Doris Brunner, Stellas Schwester

Stella wird nächstes Jahr sechzig. Das Wort Identität hat eine andere Färbung bekommen. Die Fragen werden endgültiger. Es liegen mehr Rollen, Kostüme und Jahre hinter als vor Stella. Was kommt noch? Die ganz grosse Schauspielkarriere ist es bisher nicht geworden. Gerade auch, weil Marc Stella Palino immer alles und nichts sein wollte. Weil er immer gleich in die nächste Rolle schlüpfte.

Das denkt auch Doris Brunner. Die jüngere Schwester. Sie ist die Einzige, die nicht überrascht war, dass Marc zu Stella wurde. Doris kommt an jede Premiere. Seit Jahren. «Ich habe früher selber Theater gespielt», sagt sie. «Ich weiss, wie es ist, in Rollen zu schlüpfen. Und ja, nach jeder neuen Rolle stellte sich auch mir die Frage, wer ich eigentlich bin.»

Doris hat eine sehr enge Beziehung zu ihrem Schwester-Bruder, wie sie sagt. «Ich glaube, dass Stella ein sehr zerrissener Mensch ist. Stets auf der Suche, rastlos. Marc glaubte vielleicht, dass er als Frau weniger Probleme hätte. Mangelndes Selbstbewusstsein, Zweifel und Wut über sich selbst sind aber geblieben. Vielleicht suchte Marc im Rollenwechsel auch eine Art Versöhnung mit sich selbst.»

Doris begleitet den Werdegang ihres Schwester-Bruders, seit sie sich erinnern kann. «Es wurde ihm ein grosses Potenzial in die Wiege gelegt. Er konnte alles und er wollte alles», sagt sie. «Für seine Karriere wäre es wahrscheinlich von Vorteil gewesen, wenn er sich für eine Richtung entschieden hätte. Marc war zu wenig erfolgreich für sein Können.»

Stella weiss das. Hat es selber auch gesagt. Aber sie bleibt sich lieber treu. «Manchmal denke ich, ich könnte auch wieder zurück. Die Hormone sein lassen, das Silikon rausnehmen», sagt sie. «Ich habe immer gesagt, dass ich keine alte Transe werden will. Aber vielleicht, vielleicht ein alter Clown. Die werden ja im Alter immer besser. Ja, vielleicht werde ich eine alte Clownin.»

Idee, Text, Fotos, Videos:
Martin Burkhalter
Archivbilder:
Stella Luna Brunner

© Tamedia