Der Monsterbericht im Staatsarchiv

Zurück an den Anfang: Als man in den 1960er-Jahren das AKW Mühleberg plant und baut, herrscht – noch vor dem Glaubenskrieg – eine kurze Friedensperiode, in der die Atomenergie auf einhellige Zustimmung. Kurz nachdem die Nordostschweizer Kraftwerke NOK mit dem US-Energiekonzern Westinghouse den Bau des ersten Schweizer Atomkraftwerks in Beznau vereinbaren, nimmt auch die BKW Kontakt mit dem anderen US-Anbieter von schlüsselfertigen Atomkraftwerken auf: mit General Electric.

Ein früher Zeuge der Kooperation (oben im Bild) mit den Amerikanern liegt im Staatsarchiv am Berner Falkenplatz. Es ist ein monströser englischsprachiger Standortbericht, den die Bechtel Corporation am 24. Juli 1964 der BKW abgeliefert hat. Der US-Anlagenbaukonzern mit Sitz in San Francisco durchleuchtet darin in zahllosen Bänden mit ausklappbaren Plänen das Projekt eines «AKM» – eines Atomkraftwerks Mühleberg. Es soll auf die unberührte Runtigenmatte an der Aare zu stehen kommen, unweit des Wohlenseestaudamms.

Das Licht der Öffentlichkeit erblickt das Projekt am 7. August 1964. Die BKW lädt zur Medienkonferenz ein und macht – anders als die NOK beim AKW Beznau – erstmals in der Schweiz AKW-Pläne publik. Die Zeitungen beschreiben wohlwollend den dünn besiedelten, gut erreichbaren Standort.

Im Berner Staatsarchiv findet sich auch der Brief, mit dem der Berner Regierungsrat am 23. August 1965 den Kanton Freiburg ins Bild setzt. Die Berner Regierung beruhigt darin die Nachbarn: «Da die Kantonsgrenze zwischen dem Kanton Freiburg und dem Kanton Bern über 3 Kilometer westlich des Standortes des zukünftigen Werks liegt, glauben wir, dass Euer Kanton auf keine Art und Weise weder durch das Wasser noch durch die Luft beeinträchtigt wird.»

In Mühleberg habe es damals ein solides Vertrauen in die BKW gegeben, die in der Gemeinde seit 1920 das Wohlenseekraftwerk betreibe, sagt Ortshistoriker Arthur Burkhalter. Dennoch sei gegenüber einem AKW «eine gewisse Skepsis» spürbar gewesen. Wohl auch deshalb – und auf Initiative der lokalen Ortsparteien – lädt die BKW die Mühleberger am 20. April 1966 zu einer Informationsveranstaltung mit Dia­vortrag ein. Der grosse Saal der Traube ist bis auf den letzten Platz besetzt.


Im grossen Saal der Traube wurde informiert.

Das Mitwirkungsfinale ist die ausserordentliche Gemeindeversammlung vom 12. Oktober 1966. «Die männlichen Stimmbürger konnten zwar Stellung nehmen, aber nicht abstimmen», weiss Burkhalter. Mühlebergs Gemeindepräsident Gottfried Zingg weist damals in seinem Eintretensvotum gleich darauf hin, dass über den Bau eines Atomkraftwerks «an höherer Stelle entschieden» werde und die Gemeinde höchstens bei baulichen Details mitreden könne.

Die direkte Demokratie ist in den 1960er-Jahren – vor allem in Atomfragen – noch etwas weniger direkt als heute. Das 1960 in Kraft getretene erste Atomgesetz verleiht dem Bund, über den Kopf von Kantonen und Gemeinden hinweg, das polizeiliche Aufsichts- und Bewilligungsrecht für Atomanlagen. Viele Fragen sind im Atomgesetz noch ungeregelt: Sicherheitsradien, die Erwärmung des Kühlwassers aus Flüssen, die Hochwassergefahr, Einspracherechte.

«In Mühleberg hat es damals ein solides Vertrauen in die BKW gegeben.»

Der Atom-Lutz

Am 1. September 1966 unterzeichnet die BKW mit einem Baukonsortium – bestehend aus der Badener Turbinenfirma Brown Boveri (BBC) und dem US-Konzern General Electric – den Vertrag für den Bau eines Siedewasserreaktors mit einer Nettoleistung von 306 Megawatt (MW).

Auch wenn der später auf 373 MW aufgerüstete Reaktor vergleichsweise klein ist, produziert er so viel Strom wie mehrere Wasserlaufwerke aufs Mal, und das rund um die Uhr. Gekostet hat das AWK nach damaligem Geldwert 302 Millionen Franken. Für das geplante Nachfolge-AKW in Mühleberg budgetierte man 2008 schon 5 Milliarden.

Hans Rudolf Lutz erfährt per Zufall von den Plänen der BKW. Den Reaktorphysiker ärgert 1966 im Badener Tagblatt der Verriss eines Konzerts. Es geht um einen Auftritt des Orchesters, in dem Lutz Geige spielt. Er kündigt das Tagblatt-Abo und wechselt zur NZZ. Dort sei er auf ein Inserat der BKW gestossen, die für ihren nuklearen Aufbruch einen Physiker suchte, erzählt der 83-Jährige schmunzelnd in seinem Haus in Lostorf SO.

Lutz ist ein Leben lang der Atombranche verbunden geblieben. Von seinem Garten aus sieht man den Kühlturm des nahen AKW Gösgen. Gern berichtet er, man habe ihn «Atom-Lutz» genannt:



Er ist immer noch stolz auf das Etikett. Atomkraft als Auslaufmodell? Quatsch, sagt Lutz. Sie bleibe eine Zukunftstechnologie, er selber sei kein Ewiggestriger, sondern ein Ewigmorgiger, der Zeit immer etwas voraus. So habe er das erste Elektromobil der Stadt Bern gefahren.

Die BKW holt Lutz 1966, weil er sich in einem Feld auskennt, das in der Schweiz noch unbekannt ist. Ein Jahr lang hat er am Brook­haven National Laboratory, einem Reaktorforschungsinstitut in den USA, gearbeitet und den Versuchsreaktor Proteus am Paul-Scherrer-Institut in Würenlingen entworfen. Am Technikum Burgdorf führt Lutz die künftigen Schichtleiter und technischen Stäbe des AKW Mühleberg in Kursen in die Reaktorphysik ein. Er vermittelt ihnen das Gefühl, Pioniere des technischen Fortschritts zu sein. Lutz wird der erste Leiter des AKW-Mühleberg und hatte dabei verschiedene Aufgaben:



«Ich bin kein Ewiggestriger, sondern ein Ewigmorgiger.»

Guido Flury am Simulator

Im Januar 1968 stösst der junge Elektrotechniker Guido Flury zu Lutz’ Reaktor-Avantgarde. Er hat am Technikum Burgdorf abgeschlossen und dann zwei Jahre bei der BBC und als Konstrukteur am Cern in Genf gearbeitet. Bei der Einführung in die neue Technologie erhält er einen Eindruck, der ihm als Notfallleiter und Sicherungsbeauftragter im AKW Mühleberg immer präsent bleiben wird: «Die Kernenergie hat so viele Disziplinen, sie ist wie ein Zehnkampf.» Das wiederholt der heute 75-jährige Flury in seinem Haus in Mühleberg. Von Flurys Garten hat man freie Sicht bis zum Jura, aber auch von hier sieht man den Abluftkamin des AKW mit der rot-weissen Warnmarkierung nicht.

Flury erzählt von seinen Praktika, die ihn auf die Arbeit im AKW Mühleberg vorbereiteten: in einem Kohlekraftwerk in Mannheim, in einem AKW in Holland. Ab 1969 reist er zusammen mit Hans Rudolf Lutz in die USA, zum Training am neuen Simulator von General Electric in Chicago. Ausbildner seien dort unter anderem Operateure atomgetriebener amerikanischer U-Boote und Eisbrecher gewesen.

«Die Kernenergie hat so viele Disziplinen, sie ist wie ein Zehnkampf.»
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